Seit Herausbildung der Herrschaft des Menschen über den Menschen gibt es Verschwörungen. Sie bilden eine der ältesten Techniken zur Eroberung und Aufrechterhaltung von Macht. Schon die ersten Herrscher von Stadtstaaten im Zweistromland etwa ursupierten oftmals den Thron vermittels einer Verschwörung – und sie lebten in permanenter Angst vor einer gegen sie gerichteten Verschwörung. Folglich spekulierten seit Anbeginn der Herrschaft die Beherrschten über die Ränkespiele am Hofe, über die Absichten der jeweils herrschenden Kaste. Mensch kann somit sagen, dass diese Spekulation der Untertanen über die Machenschaften am hermetisch abgeschlossenen Hofe, über die Ziele, Strategien und „Verschwörungen“ der Herrschenden so alt ist wie die Herausbildung der städtischen Zivilisation selbst.
Selbstverständlich werden auch in der jüngsten Geschichte - sicher auch in der Gegenwart - Verschwörungen ausgeheckt. Als Beispiel käme etwa der Putsch gegen Salvador Allende 1972 in Frage oder die Verschwörung des 20. Juli 1944, als Wehrmachtoffiziere versuchten, Hitler durch einen Bombenanschlag zu eliminieren. Selbst die Vorarbeiten zur Durchsetzung der HartzIV-Reformen in Deutschland, oder auch die mit Lügengeschichten forcierte Mobilisierung für den Irak-Krieg nahmen bei bestimmten Machtgruppen und Zirkeln der US-Administration einen verschwörungsartigen Charakter an. Auch heutzutage bemühen sich Menschen, den Machenschaften der Herrschenden auf die Schliche zu kommen. So könnte man etwa die Journalisten, die den Watertgate-Skandal aufdeckten, als Verschwörungstheoretiker bezeichnen, da sie ja im Rahmen ihrer Recherchen tatsächlich eine Theorie dieser Verschwörung aufstellen mussten, um sich an Hand der von ihnen ermittelten Indizien der Wahrheit anzunähern.
Mit dieser beim Mainstream-Journalismus längst in Vergessenheit geratenen Aufklärungsarbeit hat aber die rastlose, manische und pathologische Suche nach Verschwörungen, die heutzutage üblicherweise mit dem Begriff des Verschwörungstheoretikers assoziiert wird, nicht viel gemein. Diese Menschen leisten keinerlei Theoriebildung, sie befinden sich im Bann einer Ideologie. Um hier die nötige begriffliche Trennschärfe einzubringen, sollen diejenigen Personen und Gruppen, die von der unaufhörlichen Suche nach Verschwörern und Verschwörungen besessen sind, fortan als Verschwörungsideologen bezeichnet werden. Der Verschwörungsideologe bemüht sich, hinter allen möglichen gesellschaftlichen Missständen oder auch nur Phänomenen und Entwicklungen (Irak-Krieg, Weltwirtschaftskrise, Schweinegrippeimpfung, 9/11, Jörg Haiders Unfalltod etc.) das Wirken einer Verschwörergruppe aufzudecken; für ihn ist die Welt eine einzige Weltverschwörung. Negative Auswirkungen kapitalistischer Vergesellschaftung – wie Elend oder Krieg - werden auf das böse Treiben einer verschworenen Gruppe böser Menschen zurückgeführt.
Ursprünge des Verschwörungsglaubens
Ihre Ursprünge haben Verschwörungsideologien also mitnichten in dem gesunden Misstrauen, dass beispielsweise der mittelalterlicher Bauer seinem Feudalherrn oder dem Pfaffen entgegen brachte. Der Glaube an das gesellschaftliche Wirken einer allmächtigen Verschwörergruppe bildete sich erst im Zeitalter der Aufklärung, im 18. Jahrhundert, heraus. Noch heutzutage sind die Verschwörungsideologen davon überzeugt, mit ihrem Wirken der „Aufklärung“ Vorschub zu leisten. Ironischerweise haben die auch als „Truher“ bezeichneten Gruppen und Zusammenhänge damit sogar ein Körnchen Wahrheit erfasst, denn der Verschwörungsglaube bildet tatsächlich einen Teil der „dunklen Seite“ des historischen Prozesses der Aufklärung. Zentral in dieser Hinsicht ist die im 17. und 18. Jahrhundert Epoche machende Entdeckung, dass nicht Gott, sondern „die Menschen“ ihre Geschichte machen.
„Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. … Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen.“ So fassten Adorno und Horkheimer in den ersten Sätzen ihrer Dialektik der Aufklärung den Prozess der Aufklärung zusammen. Der Mensch tritt an die Stelle Gottes als Herr seiner Geschichte, seines Lebens, seiner Gesellschaft. Der menschliche Wille tritt an die Stelle der „göttlichen Mächte“, die zuvor als Triebfedern gesellschaftlicher Veränderung und natürlicher Ereignisse Angesehen wurden.
Sobald Gott nicht mehr als die allumfassende Deutungs- und Rechtfertigungsinstanz der Gesellschaft firmiert, verliert auch die religiöse Konnotation beim Verschwörungswahn ihre Bedeutung – dieser unterliegt einem Prozess der Säkularisierung. Die der Verschwörung bezichtigten Menschen sind nicht mehr mit Satan oder Dämonen im Bunde, um eine gottgewollte Ordnung zu erschüttern, sondern mit sich selbst. Hier, im Hexen- und Dämonenwahn, haben die Verschwörungsideologien ihre eigentlichen historischen Wurzeln: Ob es das Wüten der Inquisition in Spanien oder die Hexenverbrennungen der frühen Neuzeit waren, auch hier wurden stets negative Erscheinungen mit den Wirken bestimmter Menschengruppen in Zusammenhang gebracht. Der große Unterschied zur heutigen Zeit war nur, dass diese Menschen angeblich mit jenseitigen Kräften - dem Teufel oder bösen Geistern – im Bunde zu stehen schienen, oder als deren Agenten fungierten.
Die Aufklärung bringt somit auch den Modernen Verschwörungsglauben zur Ausformung. Tatsächlich waren die ersten Objekte einer Verschwörungstheorie erklärte Aufklärungsfeinde. Im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert war insbesondere im angelsächsischen Raum und unter französischen Aufklärern die Vorstellung einer allgegenwärtigen jesuitischen Verschwörung weit verbreitet. Eine ihrem Wahnbild adäquate, recht amüsante literarische Ausgestaltung fand diese erste aller Weltverschwörungfantasien beispielsweise in dem Roman „Mason and Dixon“ des amerikanischen Schriftstellers Thomas Pynchon.
Da aber im Verlauf des Aufklärungsprozesses die gesamte Welt „entzaubert“ wird, tritt nicht nur der menschliche Wille an die Stelle des Wirkens göttlicher oder dämonischer Kräfte; auch das Verständnis der Gesellschaft unterliegt einem Prozess der Säkularisierung. Das Bürgertum als Träger des Aufklärungsprozesses propagiert die Errichtung einer Gesellschaftsformation, die gemäß einer „naturgemäßen Ordnung“ eingerichtet ist. Der sich in der frühen Neuzeit ausprägende Kapitalismus wird von der Aufklärung als eine natürliche, dem menschlichen Wesen adäquate Gesellschaft aufgefasst. Die Aufklärung fungierte ja innerhalb des Konkreten historischen Emanzipationsprozesses des Bürgertums auch als ideologische Waffe im Kampf gegen die Privilegien des Adels.
Ein Naturrecht, die daraus abgeleiteten, „natürlichen“, unteilbaren Menschenrechte, die Gleichheit vor dem Gesetz und die Vertragsfreiheit ließen die auf Adelsprivilegien fußende spätfeudale Gesellschaftsformation als „widernatürlich“ erscheinen. Die vernünftige Einrichtung der Gesellschaft ist laut dem bürgerlichen Aufklärungsbegriff immer die naturgemäße Einrichtung der Gesellschaft. Ein konkreter historischer Entwicklungsabschnitt menschlicher Geschichte – der Kapitalismus – wird von der bürgerlichen Aufklärung im Rahmen eines konkreten historischen Klassenkampfes zu einer naturgemäßen Voraussetzung menschlicher Existenz schlechthin erklärt.
Laut der bürgerlichen Aufklärung gibt es folglich nur noch den menschlichen Willen und die „natürliche Ordnung“ als Festen Bezugsrahmen zu Deutung gesellschaftlicher Phänomene. Nur noch der Wille des Menschen und Naturkräfte scheinen an der Ausformung unserer Welt beteiligt zu sein. Somit wäre die Welt von jeglichem Aberglauben befreit. „Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils,“ um den letzten Satz aus dem ersten Absatz der Dialektik der Aufklärung zitieren. Unsere „natürlich“ und folglich „vernunftsgemäß“ eingerichtete Welt ist trotzdem voller Widersprüche: voller Krieg, Tod, Elend und Hunger. Da übernatürliche Instanzen als Verursacher dieser ungeheuren Verwerfungen nicht mehr in Betracht kommen, kann der Verschwörungsideologe nur noch nach einer Gruppe von Menschen suchen, deren böser Wille für die Störung unserer „naturgemäß“ und „vernünftig“ eingerichteten Welt verantwortlich sein soll.
Die Verschwörungsideologen wollen seit der Neuzeit, durchaus zu Recht, hinter die Institutionen und gesellschaftlichen Phänomene blicken, die sie nicht verstehen. Sie hintertreiben diesen ersten Impuls aber dadurch, dass sie dieses „Dahinter“ doch nur wieder in konkreten Personen, „Strippenziehern“ und mächtigen Gruppen vorstellen können, die sie aus der Welt der gegebenen Institutionen bereits kennen. Die Verschwörungsideologen wollen eine „Politik hinter der Politik“ demaskieren, die von verschworenen Zirkeln betrieben werden soll. Folglich waren es zumeist Mitglieder von Geheimgesellschaften – wie der Freumaurer und vor allem der bereits 1785 zerschlagenen, radikaldemokratischen Illuminati - die dieses Wahnbild einer Schicht von tatsächlich Herrschenden „hinter“ den Herrschern ausfüllten. Schon 1798 stellten reaktionäre Kreise beispielsweise die These auf, dass die Illuminati entscheidend an der Organisation und Durchführung der französischen Revolution beteiligt waren.
Aus den bisherigen Ausführungen müsse ersichtlich geworden seien, dass die Verschwörungstheorie sich zwangsläufig aus dem bürgerlichen Verständnis von Aufklärung herausbildet. Unsere Verschwörungsideologen haben also durchaus in gewisser Weise recht, wenn sie behaupten, mit ihren paranoiden Wahnvorstellungen „Aufklärung“ zu betreiben – der Verschwörungsglaube, der dem Aufklärungsprozess einem dunklen Schatten gleich folgt, entspringt dem verkürzten bürgerlichen Aufklärungsbegriff, der ja die bürgerliche Gesellschaftsformation in den Rang eines Nautrphänomens erhebt.
Der erste Schritt zur Überwindung des Verschwörungsdenkens besteht folglich darin, unsere Gesellschaftsformation nicht mehr als ein natürliches Phänomen anzusehen. Nur wenn der Kapitalismus nicht mehr als stumme Voraussetzung unserer Existenz und jedweder Denkbewegung fungiert, nur wenn unsere Gesellschaft als historisch, veränderbar und überwindbar aufgefasst wird, kann die Verschwörung als bloßes Oberflächenphänomen einer unser Leben bestimmenden, widersprüchlichen Dynamik der Kapitalakkumulation begriffen werden.
Wie sieht diese angeblich so „natürliche“ Ordnung aus, in der wir zu leben genötigt sind und deren Grundstruktur so gut wie niemals Gegenstand – aber immer Grundvoraussetzung - öffentlicher Diskussion ist?
Vermittlungsebenen Kapitalistischer Herrschaft
Herrschaft und Unterdrückung kommen im Kapitalismus vermittelt, also indirekt zum Ausdruck. Sie sind nicht unmittelbar Erfahrbar. Die erste Vermittlungsebene bildet natürlich der Markt. Ein jeder von uns muss etwas auf dem Markte feilbieten, um sich selbst reproduzieren zu können. Da die meisten von uns über keine Produktionsmittel verfügen, müssen wir uns selbst – unsere Fähigkeit zu arbeiten – auf dem Arbeitsmarkt anbieten. Dem ersten Augenschein nach ist es aber nicht ersichtlich, wie der vermittels Mehrarbeit dem Lohnabhängigen abgepresste Mehrwert von Kapital realisiert wird. Den meisten Lohnabhängigen ist gar nicht bewusst, dass die von ihnen geleistete Arbeit die Substanz des Kapitals bildet und dass sie an einem Arbeitstag weit mehr Wert erarbeiten, als ihr Lohn wert ist. Der Schein ist ein ganz anderer: der Lohnabhängige arbeitet und erhält hierfür einen Lohn – mehr ist unmittelbar nicht ersichtlich, die Ausbeutung verschwindet hinter dem Schleier eines (Arbeits-)Vertrages unter scheinbar gleichen Vertragsparteien. Ausgeblendet bleibt hierbei die fundamentale klassenmäßige Aufspaltung der kapitalistischen Gesellschaft in die Besitzer von Produktionsmitteln (von Fabriken und sonstigen Unternehmen), und in Lohnabhängige.
Weitere Vermittlungsebenen bilden natürlich die Politik und das durch sie geformte Rechtssystem. Die Rolle der Politik als des ideellen Gesamtkapitalisten, wie die Funktion des Rechts als eines objektivierten System von Regeln zur Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft, verschwinden ebenfalls hinter dem von der bürgerlichen Aufklärung propagierten Prinzips der „Gleichheit vor dem Gesetz“, wie unter einer Unmenge weiterer ideologischer Apologien. Doch es ist gerade diese abstrakte „Gleichehit“ höchst ungleicher Subjekte – vom Tagelöhner bis zum Multinationalen Konzern -, die den rechtlich fundierten Kern kapitalistischer Herrschaft bildet. Der gesamte Rechtsstaat fußt ja au dem Prinzip, alle Personen ohne Ansehen ihrer gesellschaftlichen Stellung gleich zu behandeln. Im gewissen Sinne stimmt das ja auch: der Schutz des Privateigentums gilt gleichermaßen für den Obdachlosen wie für den Milliardär. Diese formelle „Gleichheit der Ungleichen“ bildet somit auch einen Teil des ideologischen Fundaments des Kapitalismus, und sie ist ja auch Auswuchs der dem Bürgerlichen Aufklärungsbegriff innewohnenden Vorstellung von Menschenrechten.
Im Alltag sind diese Vermittlungsebenen von Markt, Politik und Recht als objektive „Spielregeln“ erfahrbar, die für gewöhnlich nicht mehr hinterfragt werden. Diese Spielregeln nehmen einen Charakter von Naturgesetzen, von Sachzwängen – also von Zwängen, die durch Sachen/Dinge ausgeübt werden – an. Uns allen dürfte noch die entsprechende Sachzwang-Argumentation in den Medien während der Durchsetzung der Hartz IV Gesetze bekannt sein. Der Verschwörungsideologe geht nun davon aus, dass die von ihm halluzinierte Verschwörergruppe ihre dunklen Ziele gerade durch die Umgehung und Überschreitung dieser objektive Spielregeln erreicht, während es gerade diese Spielregeln selber sind, die die vermittelte Struktur kapitalistischer Herrschaft und Ausbeutung bilden.
Der Unterschied zwischen der ideologischen Erscheinung einerseits und der Realität unserer Gesellschaft anderseits ist also fundamental. Die Eigenbewegung des gesamten Medienapparat führt zudem in eine Ideologische Richtung, die den wahren Charakter unserer Portionsweise verschleiert. Laut offizieller Ideologie handelt es sich beim Kapitalismus um eine demokratische Gesellschaft, in der alle Bürger frei sind und dieselben Rechte genießen. Viele Menschen spüren aber, dass dies offizielle Bild irgendwie nicht mit der Realität übereinstimmt. Dies gilt insbesondere für die Politik, mit ihren für die Öffentlichkeit bestimmten Ritualen, und den tatsächlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit ablaufenden Entscheidungsprozessen, in denen sich zumeist das Kapitalinteresse durchsetzt, solange dies das Fortbestehen des Gesamtsystems nicht gefährdet – hier, an dieser Funktion des Staates als „ideeller Gesamtkapitalist“, setzen die meisten Verschwörungsphantasien an. Da öffentliche Darstellung und tatsächliche Machtausübung in der bürgerlichen Politik auseinanderfallen, kann hier die Fantasie des Verschwörungsideologen sich voll entfalten. Dieser vermittelter und verschleierter Charakter kapitalistischer Herrschaft stellt somit einen enormen Gegensatz zum Mittelalter dar, wo der Bauer von konkret erfahrbaren und greifbaren Menschen, dem Feudalherr oder Pfaffen, vermittels Feuer und Schwert zur Abgabe des Zehnten oder Fronarbeit genötigt wurde. Im Mittelalter wurde diese Ständegesellschaft ja ganz offen als göttliche Ordnung legitimiert.
Wer „herrscht“ im Kapitalismus?
Der Verschwörungstheoretiker ahnt nun ganz richtig, dass die offizielle Selbstdarstellung kapitalistischer Herrschaft, dass der Augenschein unser demokratischen Gesellschaft, trügt. Er macht hierfür die Umtriebe einer wie auch immer definierten Clique von Verschwörern verantwortlich - und nicht die dargelegte, von Vermittlungebenen charakterisierte Struktur des kapitalistischen System. Wir können auch sagen, der Verschwörungstheoretiker macht einen Schritt in die richtige Richtung, um hiernach wieder zwei Schritte zurück zu tun in ideologische Verblendung.
Wer „herrscht“ aber im Kapitalismus? Die Antwort ist simpel wie auch komplex: das Kapital. Es ist gerade dies abstrakte, nicht handgreiflich fassbare Wesen des Kapitals selber, das dieses Beharren des Verschwörungsideologen auf handgreifliche Sündenböcke befördert. Wir können niemanden das Kapital zeigen, da sich hierbei um einen gesellschaftlichen Prozess, um ein Produktionsverhältnis handelt, das über uns herrscht und dass letztendlich wir selber alltäglich „erarbeiten“.
Wir können nur Momente, Transformationsformen der Kapitalreproduktion sinnlich erfahren: das Geld, die Maschinerie in der Fabrik, den Arbeiter am Fließband oder den Angestellten im Büro. Dies alles sind Momente des beständigen Formwechsels des Kapitals in seinem Reproduktionskreislaufs. Das Kapital ist aber nur aus seinen Akkumulationsprozess heraus zu verstehen. Dies ist die Uferlose, auf permanenten Expansion angelegte Bewegung von Geld, das Vermittels Investitionen in Waren, Arbeitskräfte und Produktionsmittel zu mehr Geld werden soll. Geld- Ware- Mehr Geld (G-W-G´): Ein in solch permanent anschwellenden Kreislauf befindliches Geld ist Kapital.
Zentrale Bedeutung kommt hier der menschlichen Arbeit zu. Denn sie ist die einzige Ware, die mehr Wert schafft, als sie selber wert ist. Wir „erarbeiten“ uns unsere eigene Unterdrückung. Je mehr wir als Lohnarbeiter leisten, desto größer die Profite der Unternehmen, desto schneller schreitet die längst alle Gesellschaftsbereiche und Weltregionen erfassende (und verheerende Kapitalexpansion) voran. Gesamtgesellschaftlich betrachtet läuft die Kapitalakkumulation als ein eigenständiger, von der eigenen Dynamik der höhstmöglichen Profitmaximierung getriebener Prozess ab, der über den Menschen abläuft, von niemandem gesteuert wird - dadurch, dass alle Menschen Geld verdienen müssen, um leben zu können. Den Prozess als solchen hat niemand auf der Rechnung, er wird von niemandem gesteuert. Diese Tatsache eine blinden, Gesamtgesellschaftlichen Prozesses, den die gesellschaftlichen Subjekte erzeugen und dem sie zugleich unterliegen, relativiert ja die Erkentniss der Aufklärung, wonach „Menschen ihre Geschichte“ machen – sie „machen“ machen sie nicht Bewust, sondern sind diesem durch ihr Handeln erzeugten Prozess ohnmächtig ausgeliefert. Alle, selbst die mächtigsten Akteure der Gesellschaft sind dem eisernen Gesetz der Kapitalreproduktion unterworfen – selbst mächtige Kapitalisten fungieren ja nur als Charaktermasken (Marx) ihrer ökonomischen Funktion.
Niemand steht da im Irgendwo versteckt „hinter den Kulissen“, um die Fäden des gesamten Systems zu ziehen. Nicht irgendwelche Bösewichte im Hintergrund, sondern das kapitalistische System als solches, konkret der besagte Prozess der Kapitalakkumulation, ist das Problem. Selbst die kapitalistischen Eliten in Politik und Wirtschaft bemühen sich mehr schlecht kein Recht, diesen Krisengeschüttelten Prozess der Kapitalakkumulation aufrecht zu erhalten, zu optimieren und zu lenken. Der amerikanische Ökonom und Marxist Paul Sweezy prägte für dieses Verhältnis von kapitalistischer Elite und kapitalistischer Krisendynamik die Metapher des Mannes, der einen Tiger zu reiten versucht. Selbst der größte Kapitalist ist nur ein getriebener des Kapitals, der „bei Strafe seines eigenen Untergangs“ (Marx) den Spielregeln der Profitmaximierung gehorchen muss.
Somit ist klar, es die objektive Struktur des Kapitalismus selbst ist, die dem um Erkenntnis bemühten Betrachter enorme Hindernisse in den Weg legt. Ausbeutung und Herrschaft funktionieren im Kapitalismus vermittelt, indirekt. Diese Vermittlungsebenen bestehen aus dem Markt, der Politik und dem Rechtssystem. Es ist nun auch klar, dass wir eher fragen müssen „Was“ - und nicht „Wer“ - im Kapitalismus herrscht: Es ist dies der uferlose, widersprüchliche und potentiell Selbstzerstörerische Prozess der ewigen Kapitalakkumulation, also ein gesellschaftliches Verhältnis, ein Produktionverhältnis, das – obwohl durch die Handlungen von Menschen konstituiert – ein „Eigenleben“, eine eigene Dynamik entwickelt. Marx wählte für die Charakterisierung dieses Prozesses der Kapitalakkumulation die widersprüchliche Begrifflichkeit des „Automatischen Subjekts“. Das Kapital ist seinem Wesen nach ein abstrakter Prozess, der direkt nicht sinnlich erfahrbar ist.
Der Verschwörungstheoretiker nimmt nun durchaus tatsächlich ablaufende Verschwörungen innerhalb der herrschenden Klasse aus Politik und Wirtschaft wahr, die im Rahmen der dargelegten Bemühungen zur Optimierung, Aufrechterhaltung oder Lenkung des - blind ablaufenden und von der eigenengesetzlichen Dynamik der höchstmöglichen Verwertung getriebenen - Prozesses der Kapitalakkumulation umgesetzt werden. Selbstverständlich nahmen die Operationen, die zur Durchsetzung der Hartz IV Gesetze von der herrschenden Klasse eingeleitet wurden, den Charakter einer Verschwörung an. Ähnliches ließe sich über die Vorbereitungen der Kriege gegen Jugoslawien oder den Irak sagen. Der Verschwörungstheoretiker sieht nur hinter diesen Rahmen der bekannten Institutionen stattfindenden Verschwörungen eine weitere, diesmal halluzinierte Verschwörung. Ihm ist es nicht möglich, Hartz IV oder den Irakkrieg als Aktionen zu begreifen, die sich aus der Eigengesetzlichkeit eines abstrakten Produktionsverhältnisses – also der Kapitalakkumulation – ergeben. Niedrigere Lohnkosten, zu deren Durchsetzung Hartz IV beitrug, lassen selbstverständlich die Profite des Kapitals kurzfristig explodieren (und langfristig die Kaufkraft sinken). Kriege, wie der in Irak, werden zumeist zur Sicherung von Rohstoffen, die der Kapitalakkumulation unabdingbar sind, geführt.
Stattdessen braucht es für den Verschwörungstheoretiker immer einer Gruppe von konkreten, handgreiflich fassbaren Menschen oder Institutionen, die irgendwo im Hintergrund die Fäden ziehend an allen möglichen negativen Auswirkungen kapitalistischer Vergesellschaftung schuldig sein sollen. Ob es nun Ackermann oder Bertelsmann sind – sie werden vom Verschwörungstheoretiker nicht aufgrund ihrer Funktion innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft kritisiert (auch von anderen Personen ausgeübt werden könnte), sondern moralisch: als bösartige Agenten einer hinter den Kulissen ablaufenden, bloßen Augenschein nicht zugänglichenVerschwörung.
Das heißt natürlich nicht, dass man die Verantwortlichen für diese Politik nicht politisch zu bekämpfen hat. Es sollte aber nicht die Illusion aufkommen, dass mit dem Verschwinden der betreffenden Personen oder Institutionen – ob Ackermann oder Bertelsmannstiftung – die Ursachen der beklagten Fehlentwicklungen (Finanzmarktgetriebener Kapitalismus, Demokratie- und Sozialabbau, Militarisierung etc.) beseitigt wären. Nur die Überwindung der dargelegten gesellschaftlichen Verhältnisse, der Produktions- und insbesondere Eigentumsverhältnisse, kann tatsächlich die auch vom Verschwörungstheoretiker beklagten Widersprüche kapitalistischer Vergesellschaftung in Geschichte überführen. Tatsächliche Befreiung ist nur jenseits unserer kapitalistischen Gesellschaft möglich, die nur als ein Wurmfortsatz uferloser Kapitalakkumulation ihre Daseinsberechtigung erhält.
Das kapitalistische System selbst wird von dem Verschwörungsideologen gar nicht als solches reflektiert. Es hat den Anschein, als sei es in seinem Bewusstsein längst zu einer ewigen Naturvorraussetzung menschlicher Existenz sedimentiert – ganz im Sinne des verkürzten bürgerlichen Aufklärungsbegriffs. Eine uralte Oberflächenerscheinung der Machtausübung, die Verschwörung, wird zum geheimen Urgrund jeglicher negativen Auswirkungen des Kapitalismus erklärt. Der Verschörungsideologe sieht folglich in dem Windmühlenkampf gegen die „Politik hinter der Politik“ seine primäre Aufgabe. Die Widersprüche des abstrakten, sinnlich nicht direkt wahrnehmbaren Prozesses der Kapitalreproduktion werden personifiziert gedacht als die Machenschaften von Verschwörern. Die Auswirkungen abstrakter gesellschaftlicher Prozesse werden so in der Verschwörungstheorie zu der Eigenschaft von Personen oder Dingen.
Verschwörungsideologie und Krise
Es stellt sich nun die Frage, weshalb dieses ideologisch verzerrte Bild des Kapitalismus - vor allem in Krisenzeiten – so dermaßen populär ist. Derzeit ist es ja die längst zu einer penetranten Religionsgemeinschaft mutierte „Bewegung 9/11“, der die bereits hinlänglich bekannte und aufgedeckte Verschwörung im Vorfeld des Terrorangriffs auf das World Trade Center als Erklärung nicht ausreicht. Hinzu gesellen sich neuerdings debile Verschwörungen, die die Weltwirtschaftskrise als Folge einer Verschwörung des „angelsächsischen Finanzkapitals“ halluzinieren. Wie könnte es auch anders sein, wenn die gesamte Welt nur als Folge einer Weltverschwörung wahrgenommen wird? Dann müssten ja auch die Krisen – da die krisenhafte, aus der Kapitalakkumulation resultierende Eigendynamik des kapitalistischen Systems nicht wahrgenommen wird – auf das wirken einer Mächtigem Verschwörerclique zurückzuführen sein.
In Krisenzeiten scheint es dem Verschwörungsideologen folglich so, als würden die Verschwörer ihre Aktivitäten ausweiten und kurz vor dem Erreichen ihrer finsteren Ziele (zumeist der Weltherrschaft) stehen. Der Verschwörungsideologe intensiviert dementsprechend seinen Windmühlenkampf gegen diese Verschwörer, und seine Aktivitäten beginnen pathologisch-paranoide Züge anzunehmen. Überall werden Agenten der Verschwörung vermutet, die den als Aufklärer sich imaginierenden Verschwörungsideologen auflauern. Alle Zweifler und Skeptiker, die den Verschwörungsideologen auf den offensichtlichen Irrsinn seiner Wahnvorstellungen aufmerksam machen (wie die simple Tatsache, dass eine hinter dem Anschlag auf das World Trade Center steckende Regierungsverschwörung Tausende von Menschen hätte einbeziehen müssen), werden oftmals als Agenten der Weltverschwörung halluziniert.
Solche verschwörungideologischen Welterklärungen können sich sehr schnell verbreiten. Gerade in Krisenzeiten, wenn viele vorher apolitische und theoretisch unerfahrene Menschen nach den Ursachen der auf ihr persönliches Leben sich auswirkenden Verwerfungen fragen, üben solche primitiven Erklärungsmuster, die die Krisentendenzen des Kapitalismus auf das böse Wirken einer Gruppe böser Menschen reduzieren, eine ungeheure Faszination aus. Dies erspart dem Verschwörungsideologen das Denken, die mühsame Erkenntnis der gesellschaftlichen Struktur, der inneren Antriebsdynamik und der Vermittlungsebenen kapitalistischer Herrschaft.
Die „Neue Weltordnung“ ist für den Verschwörungstheoretiker also das Resultat des Strippenziehens einer Gruppe von einflussreichen Verschwörern; anstatt als Ergebnis der prozessualen Entwicklung der dem Kapitalismus innewohnenden Widersprüche begriffen zu werden. Die meisten politischen Verschwörungen, die es zweifellos gibt, sind nur aus dieser destruktiven Dynamik, die dem kapitalistischen System innewohnt, zu erklären. Letztendlich ist es der Drang des Kapitals nach permanenter Expansion und die dafür notwendige Jagd nach Rohstoffen, was die imperialen Mächte zu ihren blutigen Abenteuern treibt. Die Verschwörungen, von Regierungsmitgliedern und Industriellen, die teilweise solchen Kriegen vorhergehen, sind nur Folge - und nicht Ursache! - dieses besagten gesellschaftlichen Verhältnisses. Es ist das System, das selbst die mächtigsten Akteure – selbst einen George Bush, Rupert Murdoch oder George Soros – zu getriebenen macht. „Bei Strafe ihres eigenen ökonomischen Untergangs“ haben sie gemäß der gleichen Systemlogik der Kapitalverwertung zu agieren. Solange es den Kapitalismus gibt, wird das Verschwörungen geben, werden Verschwörungsideologen daran irre werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass den Verschwörungsideologen das Bewusstsein vom historischen Charakters unserer Gesellschaftsformationen fehlt. Der Kapitalismus ist eine blinde Voraussetzung ihrer Ideologie und ist folglich auch nicht Gegenstand ihrer Betrachtungen. Die aus dem widersprüchlichen Charakter der Kapitalakkumulation resultierenden gesellschaftlichen Verwerfungen werden hingegen – in der Tradition des verkürzten bürgerlichen Aufklärungsbegriffs - auf den bösen Willen einer Gruppe böser Menschen, also einer Verschwörerclique, zurückgeführt.
Nun dürfte auch die eingangs vorgenommene und zur Diskussion gestellte begriffliche Scheidung zwischen Verschwörungstheoretikern und Verschwörungsideologen klar werden: Auf den ersten Blick scheint es tatsächlich so, als ob ein Verschwörungsideologe „Aufklärung“ betreiben würde, da es ja tatsächlich auch in unserer Zeit an Verschwörungen nicht mangelt. Und schließlich können Verschwörungsideologen echte Verschwörungen aufdecken. Auch ein ideologisch verblendetes Huhn findet mal ein Körnchen Wahrheit. Dennoch – bei aller oberflächlichen Ähnlichkeit - hat das Treiben der Verschwörungsideologen nichts mit echter, der Erkenntnis unserer Gesellschaftstruktur dienender Aufklärung zu tun. Einem der Erkenntnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge verpflichteten Verschwörungstheoretiker dient eine aufgedeckte Verschwörung vor allem zur Illustierung der dem Kapitalismus innewohnenden Antagonismen, die aus seiner Struktur als Klassengesellschaft - und der widerspruchsvollen Dynamik der Kapitalakkumulation - resultieren. Eine aufgedeckte Verschwörung dient dem Verschwörungstheoretiker folglich dazu, anhand dieses konkreten Beispiels die Notwendigkeit der Überwindung unserer kapitalistischen Produktionsweise aufzuzeigen, die eben mit gesetzesmäßiger Zwangsläufigkeit Krisen, Kriege und auch Verschwörungen hervorbringt.
Der Verschwörungsideologe sieht hingegen in jeder aufgedeckten Verschwörung nur einen weiteren Ansporn, nach dem nächsten Komplott zu suchen. Mit jeder aufgedeckten Intrige verfestigt sich bei ihm seine Wahnvorstellung, der zufolge es da eine oberste aller Verschwörung wird, welche hinter den Kulissen alle Strippen zieht und die Geschicke der Welt lenkt. Für ihn bleibt die Welt eine einzige Weltverschwörung. Dieses Denken ist höchst gefährlich. Die Erlösung aus diesem paranoiden Wahnsystem scheint dem Verschwörungideologen nur in der Auslöschung der Gruppe möglich, die er der Verschwörung bezichtigt.
Es muss hier aber auch in aller Deutlichkeit abschließend festgehalten werden, dass man den Verschwörungsglauben nicht automatisch als Faschismus bezeichnen darf. Viele Verschwörungsideologen haben eher ein progressives, fortschrittliches Selbstbild. Sie sehen sich als Kämpfer gegen eine verschwörerischen Machtelite, die mittels einer verbrecherischen Politik die Welt zu beherrschen trachtet. Dennoch muss auf die strukturellen Übereinstimmungen des Verschwörungsglaubens mit der faschistischen Ideologie hingewiesen werden: Es waren insbesondere die Nazis, die konsequent die kapitalistische Welt als ein einzige Weltverschwörung wahrnahmen. All die ungeheuren Widersprüche kapitalistischer Vergesellschaftung, ihre Krisenanfälligkeit und die ungeheure Verelendung breitester Bevölkerungsschichten während der letzten Weltwirtschaftskrise wurden auf das bösartige und gesellschaftersetzende Wirken einer verschworenen Gruppe von Menschen – in diesem Fall der Juden – zurückgeführt. Das jeglicher menschlichen Eigenschaften entkleidete antisemitische Wahnbild „des Juden“ fungierte hier als die Personifizierung aller negativen Auswirkungen kapitalistischer Vergesellschaftung.
Dies ist ja das genaue Gegenteil linker, antikapitalistischer Theoriebildung und Praxis, die ja gerade auf die Erkenntnis und Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse abzielt - und sich nicht in der fiebrig-wahnhaften Suche nach irgendwelchen Sündenböcken verliert.
Selbstverständlich werden auch in der jüngsten Geschichte - sicher auch in der Gegenwart - Verschwörungen ausgeheckt. Als Beispiel käme etwa der Putsch gegen Salvador Allende 1972 in Frage oder die Verschwörung des 20. Juli 1944, als Wehrmachtoffiziere versuchten, Hitler durch einen Bombenanschlag zu eliminieren. Selbst die Vorarbeiten zur Durchsetzung der HartzIV-Reformen in Deutschland, oder auch die mit Lügengeschichten forcierte Mobilisierung für den Irak-Krieg nahmen bei bestimmten Machtgruppen und Zirkeln der US-Administration einen verschwörungsartigen Charakter an. Auch heutzutage bemühen sich Menschen, den Machenschaften der Herrschenden auf die Schliche zu kommen. So könnte man etwa die Journalisten, die den Watertgate-Skandal aufdeckten, als Verschwörungstheoretiker bezeichnen, da sie ja im Rahmen ihrer Recherchen tatsächlich eine Theorie dieser Verschwörung aufstellen mussten, um sich an Hand der von ihnen ermittelten Indizien der Wahrheit anzunähern.
Mit dieser beim Mainstream-Journalismus längst in Vergessenheit geratenen Aufklärungsarbeit hat aber die rastlose, manische und pathologische Suche nach Verschwörungen, die heutzutage üblicherweise mit dem Begriff des Verschwörungstheoretikers assoziiert wird, nicht viel gemein. Diese Menschen leisten keinerlei Theoriebildung, sie befinden sich im Bann einer Ideologie. Um hier die nötige begriffliche Trennschärfe einzubringen, sollen diejenigen Personen und Gruppen, die von der unaufhörlichen Suche nach Verschwörern und Verschwörungen besessen sind, fortan als Verschwörungsideologen bezeichnet werden. Der Verschwörungsideologe bemüht sich, hinter allen möglichen gesellschaftlichen Missständen oder auch nur Phänomenen und Entwicklungen (Irak-Krieg, Weltwirtschaftskrise, Schweinegrippeimpfung, 9/11, Jörg Haiders Unfalltod etc.) das Wirken einer Verschwörergruppe aufzudecken; für ihn ist die Welt eine einzige Weltverschwörung. Negative Auswirkungen kapitalistischer Vergesellschaftung – wie Elend oder Krieg - werden auf das böse Treiben einer verschworenen Gruppe böser Menschen zurückgeführt.
Ursprünge des Verschwörungsglaubens
Ihre Ursprünge haben Verschwörungsideologien also mitnichten in dem gesunden Misstrauen, dass beispielsweise der mittelalterlicher Bauer seinem Feudalherrn oder dem Pfaffen entgegen brachte. Der Glaube an das gesellschaftliche Wirken einer allmächtigen Verschwörergruppe bildete sich erst im Zeitalter der Aufklärung, im 18. Jahrhundert, heraus. Noch heutzutage sind die Verschwörungsideologen davon überzeugt, mit ihrem Wirken der „Aufklärung“ Vorschub zu leisten. Ironischerweise haben die auch als „Truher“ bezeichneten Gruppen und Zusammenhänge damit sogar ein Körnchen Wahrheit erfasst, denn der Verschwörungsglaube bildet tatsächlich einen Teil der „dunklen Seite“ des historischen Prozesses der Aufklärung. Zentral in dieser Hinsicht ist die im 17. und 18. Jahrhundert Epoche machende Entdeckung, dass nicht Gott, sondern „die Menschen“ ihre Geschichte machen.
„Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. … Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen.“ So fassten Adorno und Horkheimer in den ersten Sätzen ihrer Dialektik der Aufklärung den Prozess der Aufklärung zusammen. Der Mensch tritt an die Stelle Gottes als Herr seiner Geschichte, seines Lebens, seiner Gesellschaft. Der menschliche Wille tritt an die Stelle der „göttlichen Mächte“, die zuvor als Triebfedern gesellschaftlicher Veränderung und natürlicher Ereignisse Angesehen wurden.
Sobald Gott nicht mehr als die allumfassende Deutungs- und Rechtfertigungsinstanz der Gesellschaft firmiert, verliert auch die religiöse Konnotation beim Verschwörungswahn ihre Bedeutung – dieser unterliegt einem Prozess der Säkularisierung. Die der Verschwörung bezichtigten Menschen sind nicht mehr mit Satan oder Dämonen im Bunde, um eine gottgewollte Ordnung zu erschüttern, sondern mit sich selbst. Hier, im Hexen- und Dämonenwahn, haben die Verschwörungsideologien ihre eigentlichen historischen Wurzeln: Ob es das Wüten der Inquisition in Spanien oder die Hexenverbrennungen der frühen Neuzeit waren, auch hier wurden stets negative Erscheinungen mit den Wirken bestimmter Menschengruppen in Zusammenhang gebracht. Der große Unterschied zur heutigen Zeit war nur, dass diese Menschen angeblich mit jenseitigen Kräften - dem Teufel oder bösen Geistern – im Bunde zu stehen schienen, oder als deren Agenten fungierten.
Die Aufklärung bringt somit auch den Modernen Verschwörungsglauben zur Ausformung. Tatsächlich waren die ersten Objekte einer Verschwörungstheorie erklärte Aufklärungsfeinde. Im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert war insbesondere im angelsächsischen Raum und unter französischen Aufklärern die Vorstellung einer allgegenwärtigen jesuitischen Verschwörung weit verbreitet. Eine ihrem Wahnbild adäquate, recht amüsante literarische Ausgestaltung fand diese erste aller Weltverschwörungfantasien beispielsweise in dem Roman „Mason and Dixon“ des amerikanischen Schriftstellers Thomas Pynchon.
Da aber im Verlauf des Aufklärungsprozesses die gesamte Welt „entzaubert“ wird, tritt nicht nur der menschliche Wille an die Stelle des Wirkens göttlicher oder dämonischer Kräfte; auch das Verständnis der Gesellschaft unterliegt einem Prozess der Säkularisierung. Das Bürgertum als Träger des Aufklärungsprozesses propagiert die Errichtung einer Gesellschaftsformation, die gemäß einer „naturgemäßen Ordnung“ eingerichtet ist. Der sich in der frühen Neuzeit ausprägende Kapitalismus wird von der Aufklärung als eine natürliche, dem menschlichen Wesen adäquate Gesellschaft aufgefasst. Die Aufklärung fungierte ja innerhalb des Konkreten historischen Emanzipationsprozesses des Bürgertums auch als ideologische Waffe im Kampf gegen die Privilegien des Adels.
Ein Naturrecht, die daraus abgeleiteten, „natürlichen“, unteilbaren Menschenrechte, die Gleichheit vor dem Gesetz und die Vertragsfreiheit ließen die auf Adelsprivilegien fußende spätfeudale Gesellschaftsformation als „widernatürlich“ erscheinen. Die vernünftige Einrichtung der Gesellschaft ist laut dem bürgerlichen Aufklärungsbegriff immer die naturgemäße Einrichtung der Gesellschaft. Ein konkreter historischer Entwicklungsabschnitt menschlicher Geschichte – der Kapitalismus – wird von der bürgerlichen Aufklärung im Rahmen eines konkreten historischen Klassenkampfes zu einer naturgemäßen Voraussetzung menschlicher Existenz schlechthin erklärt.
Laut der bürgerlichen Aufklärung gibt es folglich nur noch den menschlichen Willen und die „natürliche Ordnung“ als Festen Bezugsrahmen zu Deutung gesellschaftlicher Phänomene. Nur noch der Wille des Menschen und Naturkräfte scheinen an der Ausformung unserer Welt beteiligt zu sein. Somit wäre die Welt von jeglichem Aberglauben befreit. „Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils,“ um den letzten Satz aus dem ersten Absatz der Dialektik der Aufklärung zitieren. Unsere „natürlich“ und folglich „vernunftsgemäß“ eingerichtete Welt ist trotzdem voller Widersprüche: voller Krieg, Tod, Elend und Hunger. Da übernatürliche Instanzen als Verursacher dieser ungeheuren Verwerfungen nicht mehr in Betracht kommen, kann der Verschwörungsideologe nur noch nach einer Gruppe von Menschen suchen, deren böser Wille für die Störung unserer „naturgemäß“ und „vernünftig“ eingerichteten Welt verantwortlich sein soll.
Die Verschwörungsideologen wollen seit der Neuzeit, durchaus zu Recht, hinter die Institutionen und gesellschaftlichen Phänomene blicken, die sie nicht verstehen. Sie hintertreiben diesen ersten Impuls aber dadurch, dass sie dieses „Dahinter“ doch nur wieder in konkreten Personen, „Strippenziehern“ und mächtigen Gruppen vorstellen können, die sie aus der Welt der gegebenen Institutionen bereits kennen. Die Verschwörungsideologen wollen eine „Politik hinter der Politik“ demaskieren, die von verschworenen Zirkeln betrieben werden soll. Folglich waren es zumeist Mitglieder von Geheimgesellschaften – wie der Freumaurer und vor allem der bereits 1785 zerschlagenen, radikaldemokratischen Illuminati - die dieses Wahnbild einer Schicht von tatsächlich Herrschenden „hinter“ den Herrschern ausfüllten. Schon 1798 stellten reaktionäre Kreise beispielsweise die These auf, dass die Illuminati entscheidend an der Organisation und Durchführung der französischen Revolution beteiligt waren.
Aus den bisherigen Ausführungen müsse ersichtlich geworden seien, dass die Verschwörungstheorie sich zwangsläufig aus dem bürgerlichen Verständnis von Aufklärung herausbildet. Unsere Verschwörungsideologen haben also durchaus in gewisser Weise recht, wenn sie behaupten, mit ihren paranoiden Wahnvorstellungen „Aufklärung“ zu betreiben – der Verschwörungsglaube, der dem Aufklärungsprozess einem dunklen Schatten gleich folgt, entspringt dem verkürzten bürgerlichen Aufklärungsbegriff, der ja die bürgerliche Gesellschaftsformation in den Rang eines Nautrphänomens erhebt.
Der erste Schritt zur Überwindung des Verschwörungsdenkens besteht folglich darin, unsere Gesellschaftsformation nicht mehr als ein natürliches Phänomen anzusehen. Nur wenn der Kapitalismus nicht mehr als stumme Voraussetzung unserer Existenz und jedweder Denkbewegung fungiert, nur wenn unsere Gesellschaft als historisch, veränderbar und überwindbar aufgefasst wird, kann die Verschwörung als bloßes Oberflächenphänomen einer unser Leben bestimmenden, widersprüchlichen Dynamik der Kapitalakkumulation begriffen werden.
Wie sieht diese angeblich so „natürliche“ Ordnung aus, in der wir zu leben genötigt sind und deren Grundstruktur so gut wie niemals Gegenstand – aber immer Grundvoraussetzung - öffentlicher Diskussion ist?
Vermittlungsebenen Kapitalistischer Herrschaft
Herrschaft und Unterdrückung kommen im Kapitalismus vermittelt, also indirekt zum Ausdruck. Sie sind nicht unmittelbar Erfahrbar. Die erste Vermittlungsebene bildet natürlich der Markt. Ein jeder von uns muss etwas auf dem Markte feilbieten, um sich selbst reproduzieren zu können. Da die meisten von uns über keine Produktionsmittel verfügen, müssen wir uns selbst – unsere Fähigkeit zu arbeiten – auf dem Arbeitsmarkt anbieten. Dem ersten Augenschein nach ist es aber nicht ersichtlich, wie der vermittels Mehrarbeit dem Lohnabhängigen abgepresste Mehrwert von Kapital realisiert wird. Den meisten Lohnabhängigen ist gar nicht bewusst, dass die von ihnen geleistete Arbeit die Substanz des Kapitals bildet und dass sie an einem Arbeitstag weit mehr Wert erarbeiten, als ihr Lohn wert ist. Der Schein ist ein ganz anderer: der Lohnabhängige arbeitet und erhält hierfür einen Lohn – mehr ist unmittelbar nicht ersichtlich, die Ausbeutung verschwindet hinter dem Schleier eines (Arbeits-)Vertrages unter scheinbar gleichen Vertragsparteien. Ausgeblendet bleibt hierbei die fundamentale klassenmäßige Aufspaltung der kapitalistischen Gesellschaft in die Besitzer von Produktionsmitteln (von Fabriken und sonstigen Unternehmen), und in Lohnabhängige.
Weitere Vermittlungsebenen bilden natürlich die Politik und das durch sie geformte Rechtssystem. Die Rolle der Politik als des ideellen Gesamtkapitalisten, wie die Funktion des Rechts als eines objektivierten System von Regeln zur Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft, verschwinden ebenfalls hinter dem von der bürgerlichen Aufklärung propagierten Prinzips der „Gleichheit vor dem Gesetz“, wie unter einer Unmenge weiterer ideologischer Apologien. Doch es ist gerade diese abstrakte „Gleichehit“ höchst ungleicher Subjekte – vom Tagelöhner bis zum Multinationalen Konzern -, die den rechtlich fundierten Kern kapitalistischer Herrschaft bildet. Der gesamte Rechtsstaat fußt ja au dem Prinzip, alle Personen ohne Ansehen ihrer gesellschaftlichen Stellung gleich zu behandeln. Im gewissen Sinne stimmt das ja auch: der Schutz des Privateigentums gilt gleichermaßen für den Obdachlosen wie für den Milliardär. Diese formelle „Gleichheit der Ungleichen“ bildet somit auch einen Teil des ideologischen Fundaments des Kapitalismus, und sie ist ja auch Auswuchs der dem Bürgerlichen Aufklärungsbegriff innewohnenden Vorstellung von Menschenrechten.
Im Alltag sind diese Vermittlungsebenen von Markt, Politik und Recht als objektive „Spielregeln“ erfahrbar, die für gewöhnlich nicht mehr hinterfragt werden. Diese Spielregeln nehmen einen Charakter von Naturgesetzen, von Sachzwängen – also von Zwängen, die durch Sachen/Dinge ausgeübt werden – an. Uns allen dürfte noch die entsprechende Sachzwang-Argumentation in den Medien während der Durchsetzung der Hartz IV Gesetze bekannt sein. Der Verschwörungsideologe geht nun davon aus, dass die von ihm halluzinierte Verschwörergruppe ihre dunklen Ziele gerade durch die Umgehung und Überschreitung dieser objektive Spielregeln erreicht, während es gerade diese Spielregeln selber sind, die die vermittelte Struktur kapitalistischer Herrschaft und Ausbeutung bilden.
Der Unterschied zwischen der ideologischen Erscheinung einerseits und der Realität unserer Gesellschaft anderseits ist also fundamental. Die Eigenbewegung des gesamten Medienapparat führt zudem in eine Ideologische Richtung, die den wahren Charakter unserer Portionsweise verschleiert. Laut offizieller Ideologie handelt es sich beim Kapitalismus um eine demokratische Gesellschaft, in der alle Bürger frei sind und dieselben Rechte genießen. Viele Menschen spüren aber, dass dies offizielle Bild irgendwie nicht mit der Realität übereinstimmt. Dies gilt insbesondere für die Politik, mit ihren für die Öffentlichkeit bestimmten Ritualen, und den tatsächlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit ablaufenden Entscheidungsprozessen, in denen sich zumeist das Kapitalinteresse durchsetzt, solange dies das Fortbestehen des Gesamtsystems nicht gefährdet – hier, an dieser Funktion des Staates als „ideeller Gesamtkapitalist“, setzen die meisten Verschwörungsphantasien an. Da öffentliche Darstellung und tatsächliche Machtausübung in der bürgerlichen Politik auseinanderfallen, kann hier die Fantasie des Verschwörungsideologen sich voll entfalten. Dieser vermittelter und verschleierter Charakter kapitalistischer Herrschaft stellt somit einen enormen Gegensatz zum Mittelalter dar, wo der Bauer von konkret erfahrbaren und greifbaren Menschen, dem Feudalherr oder Pfaffen, vermittels Feuer und Schwert zur Abgabe des Zehnten oder Fronarbeit genötigt wurde. Im Mittelalter wurde diese Ständegesellschaft ja ganz offen als göttliche Ordnung legitimiert.
Wer „herrscht“ im Kapitalismus?
Der Verschwörungstheoretiker ahnt nun ganz richtig, dass die offizielle Selbstdarstellung kapitalistischer Herrschaft, dass der Augenschein unser demokratischen Gesellschaft, trügt. Er macht hierfür die Umtriebe einer wie auch immer definierten Clique von Verschwörern verantwortlich - und nicht die dargelegte, von Vermittlungebenen charakterisierte Struktur des kapitalistischen System. Wir können auch sagen, der Verschwörungstheoretiker macht einen Schritt in die richtige Richtung, um hiernach wieder zwei Schritte zurück zu tun in ideologische Verblendung.
Wer „herrscht“ aber im Kapitalismus? Die Antwort ist simpel wie auch komplex: das Kapital. Es ist gerade dies abstrakte, nicht handgreiflich fassbare Wesen des Kapitals selber, das dieses Beharren des Verschwörungsideologen auf handgreifliche Sündenböcke befördert. Wir können niemanden das Kapital zeigen, da sich hierbei um einen gesellschaftlichen Prozess, um ein Produktionsverhältnis handelt, das über uns herrscht und dass letztendlich wir selber alltäglich „erarbeiten“.
Wir können nur Momente, Transformationsformen der Kapitalreproduktion sinnlich erfahren: das Geld, die Maschinerie in der Fabrik, den Arbeiter am Fließband oder den Angestellten im Büro. Dies alles sind Momente des beständigen Formwechsels des Kapitals in seinem Reproduktionskreislaufs. Das Kapital ist aber nur aus seinen Akkumulationsprozess heraus zu verstehen. Dies ist die Uferlose, auf permanenten Expansion angelegte Bewegung von Geld, das Vermittels Investitionen in Waren, Arbeitskräfte und Produktionsmittel zu mehr Geld werden soll. Geld- Ware- Mehr Geld (G-W-G´): Ein in solch permanent anschwellenden Kreislauf befindliches Geld ist Kapital.
Zentrale Bedeutung kommt hier der menschlichen Arbeit zu. Denn sie ist die einzige Ware, die mehr Wert schafft, als sie selber wert ist. Wir „erarbeiten“ uns unsere eigene Unterdrückung. Je mehr wir als Lohnarbeiter leisten, desto größer die Profite der Unternehmen, desto schneller schreitet die längst alle Gesellschaftsbereiche und Weltregionen erfassende (und verheerende Kapitalexpansion) voran. Gesamtgesellschaftlich betrachtet läuft die Kapitalakkumulation als ein eigenständiger, von der eigenen Dynamik der höhstmöglichen Profitmaximierung getriebener Prozess ab, der über den Menschen abläuft, von niemandem gesteuert wird - dadurch, dass alle Menschen Geld verdienen müssen, um leben zu können. Den Prozess als solchen hat niemand auf der Rechnung, er wird von niemandem gesteuert. Diese Tatsache eine blinden, Gesamtgesellschaftlichen Prozesses, den die gesellschaftlichen Subjekte erzeugen und dem sie zugleich unterliegen, relativiert ja die Erkentniss der Aufklärung, wonach „Menschen ihre Geschichte“ machen – sie „machen“ machen sie nicht Bewust, sondern sind diesem durch ihr Handeln erzeugten Prozess ohnmächtig ausgeliefert. Alle, selbst die mächtigsten Akteure der Gesellschaft sind dem eisernen Gesetz der Kapitalreproduktion unterworfen – selbst mächtige Kapitalisten fungieren ja nur als Charaktermasken (Marx) ihrer ökonomischen Funktion.
Niemand steht da im Irgendwo versteckt „hinter den Kulissen“, um die Fäden des gesamten Systems zu ziehen. Nicht irgendwelche Bösewichte im Hintergrund, sondern das kapitalistische System als solches, konkret der besagte Prozess der Kapitalakkumulation, ist das Problem. Selbst die kapitalistischen Eliten in Politik und Wirtschaft bemühen sich mehr schlecht kein Recht, diesen Krisengeschüttelten Prozess der Kapitalakkumulation aufrecht zu erhalten, zu optimieren und zu lenken. Der amerikanische Ökonom und Marxist Paul Sweezy prägte für dieses Verhältnis von kapitalistischer Elite und kapitalistischer Krisendynamik die Metapher des Mannes, der einen Tiger zu reiten versucht. Selbst der größte Kapitalist ist nur ein getriebener des Kapitals, der „bei Strafe seines eigenen Untergangs“ (Marx) den Spielregeln der Profitmaximierung gehorchen muss.
Somit ist klar, es die objektive Struktur des Kapitalismus selbst ist, die dem um Erkenntnis bemühten Betrachter enorme Hindernisse in den Weg legt. Ausbeutung und Herrschaft funktionieren im Kapitalismus vermittelt, indirekt. Diese Vermittlungsebenen bestehen aus dem Markt, der Politik und dem Rechtssystem. Es ist nun auch klar, dass wir eher fragen müssen „Was“ - und nicht „Wer“ - im Kapitalismus herrscht: Es ist dies der uferlose, widersprüchliche und potentiell Selbstzerstörerische Prozess der ewigen Kapitalakkumulation, also ein gesellschaftliches Verhältnis, ein Produktionverhältnis, das – obwohl durch die Handlungen von Menschen konstituiert – ein „Eigenleben“, eine eigene Dynamik entwickelt. Marx wählte für die Charakterisierung dieses Prozesses der Kapitalakkumulation die widersprüchliche Begrifflichkeit des „Automatischen Subjekts“. Das Kapital ist seinem Wesen nach ein abstrakter Prozess, der direkt nicht sinnlich erfahrbar ist.
Der Verschwörungstheoretiker nimmt nun durchaus tatsächlich ablaufende Verschwörungen innerhalb der herrschenden Klasse aus Politik und Wirtschaft wahr, die im Rahmen der dargelegten Bemühungen zur Optimierung, Aufrechterhaltung oder Lenkung des - blind ablaufenden und von der eigenengesetzlichen Dynamik der höchstmöglichen Verwertung getriebenen - Prozesses der Kapitalakkumulation umgesetzt werden. Selbstverständlich nahmen die Operationen, die zur Durchsetzung der Hartz IV Gesetze von der herrschenden Klasse eingeleitet wurden, den Charakter einer Verschwörung an. Ähnliches ließe sich über die Vorbereitungen der Kriege gegen Jugoslawien oder den Irak sagen. Der Verschwörungstheoretiker sieht nur hinter diesen Rahmen der bekannten Institutionen stattfindenden Verschwörungen eine weitere, diesmal halluzinierte Verschwörung. Ihm ist es nicht möglich, Hartz IV oder den Irakkrieg als Aktionen zu begreifen, die sich aus der Eigengesetzlichkeit eines abstrakten Produktionsverhältnisses – also der Kapitalakkumulation – ergeben. Niedrigere Lohnkosten, zu deren Durchsetzung Hartz IV beitrug, lassen selbstverständlich die Profite des Kapitals kurzfristig explodieren (und langfristig die Kaufkraft sinken). Kriege, wie der in Irak, werden zumeist zur Sicherung von Rohstoffen, die der Kapitalakkumulation unabdingbar sind, geführt.
Stattdessen braucht es für den Verschwörungstheoretiker immer einer Gruppe von konkreten, handgreiflich fassbaren Menschen oder Institutionen, die irgendwo im Hintergrund die Fäden ziehend an allen möglichen negativen Auswirkungen kapitalistischer Vergesellschaftung schuldig sein sollen. Ob es nun Ackermann oder Bertelsmann sind – sie werden vom Verschwörungstheoretiker nicht aufgrund ihrer Funktion innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft kritisiert (auch von anderen Personen ausgeübt werden könnte), sondern moralisch: als bösartige Agenten einer hinter den Kulissen ablaufenden, bloßen Augenschein nicht zugänglichenVerschwörung.
Das heißt natürlich nicht, dass man die Verantwortlichen für diese Politik nicht politisch zu bekämpfen hat. Es sollte aber nicht die Illusion aufkommen, dass mit dem Verschwinden der betreffenden Personen oder Institutionen – ob Ackermann oder Bertelsmannstiftung – die Ursachen der beklagten Fehlentwicklungen (Finanzmarktgetriebener Kapitalismus, Demokratie- und Sozialabbau, Militarisierung etc.) beseitigt wären. Nur die Überwindung der dargelegten gesellschaftlichen Verhältnisse, der Produktions- und insbesondere Eigentumsverhältnisse, kann tatsächlich die auch vom Verschwörungstheoretiker beklagten Widersprüche kapitalistischer Vergesellschaftung in Geschichte überführen. Tatsächliche Befreiung ist nur jenseits unserer kapitalistischen Gesellschaft möglich, die nur als ein Wurmfortsatz uferloser Kapitalakkumulation ihre Daseinsberechtigung erhält.
Das kapitalistische System selbst wird von dem Verschwörungsideologen gar nicht als solches reflektiert. Es hat den Anschein, als sei es in seinem Bewusstsein längst zu einer ewigen Naturvorraussetzung menschlicher Existenz sedimentiert – ganz im Sinne des verkürzten bürgerlichen Aufklärungsbegriffs. Eine uralte Oberflächenerscheinung der Machtausübung, die Verschwörung, wird zum geheimen Urgrund jeglicher negativen Auswirkungen des Kapitalismus erklärt. Der Verschörungsideologe sieht folglich in dem Windmühlenkampf gegen die „Politik hinter der Politik“ seine primäre Aufgabe. Die Widersprüche des abstrakten, sinnlich nicht direkt wahrnehmbaren Prozesses der Kapitalreproduktion werden personifiziert gedacht als die Machenschaften von Verschwörern. Die Auswirkungen abstrakter gesellschaftlicher Prozesse werden so in der Verschwörungstheorie zu der Eigenschaft von Personen oder Dingen.
Verschwörungsideologie und Krise
Es stellt sich nun die Frage, weshalb dieses ideologisch verzerrte Bild des Kapitalismus - vor allem in Krisenzeiten – so dermaßen populär ist. Derzeit ist es ja die längst zu einer penetranten Religionsgemeinschaft mutierte „Bewegung 9/11“, der die bereits hinlänglich bekannte und aufgedeckte Verschwörung im Vorfeld des Terrorangriffs auf das World Trade Center als Erklärung nicht ausreicht. Hinzu gesellen sich neuerdings debile Verschwörungen, die die Weltwirtschaftskrise als Folge einer Verschwörung des „angelsächsischen Finanzkapitals“ halluzinieren. Wie könnte es auch anders sein, wenn die gesamte Welt nur als Folge einer Weltverschwörung wahrgenommen wird? Dann müssten ja auch die Krisen – da die krisenhafte, aus der Kapitalakkumulation resultierende Eigendynamik des kapitalistischen Systems nicht wahrgenommen wird – auf das wirken einer Mächtigem Verschwörerclique zurückzuführen sein.
In Krisenzeiten scheint es dem Verschwörungsideologen folglich so, als würden die Verschwörer ihre Aktivitäten ausweiten und kurz vor dem Erreichen ihrer finsteren Ziele (zumeist der Weltherrschaft) stehen. Der Verschwörungsideologe intensiviert dementsprechend seinen Windmühlenkampf gegen diese Verschwörer, und seine Aktivitäten beginnen pathologisch-paranoide Züge anzunehmen. Überall werden Agenten der Verschwörung vermutet, die den als Aufklärer sich imaginierenden Verschwörungsideologen auflauern. Alle Zweifler und Skeptiker, die den Verschwörungsideologen auf den offensichtlichen Irrsinn seiner Wahnvorstellungen aufmerksam machen (wie die simple Tatsache, dass eine hinter dem Anschlag auf das World Trade Center steckende Regierungsverschwörung Tausende von Menschen hätte einbeziehen müssen), werden oftmals als Agenten der Weltverschwörung halluziniert.
Solche verschwörungideologischen Welterklärungen können sich sehr schnell verbreiten. Gerade in Krisenzeiten, wenn viele vorher apolitische und theoretisch unerfahrene Menschen nach den Ursachen der auf ihr persönliches Leben sich auswirkenden Verwerfungen fragen, üben solche primitiven Erklärungsmuster, die die Krisentendenzen des Kapitalismus auf das böse Wirken einer Gruppe böser Menschen reduzieren, eine ungeheure Faszination aus. Dies erspart dem Verschwörungsideologen das Denken, die mühsame Erkenntnis der gesellschaftlichen Struktur, der inneren Antriebsdynamik und der Vermittlungsebenen kapitalistischer Herrschaft.
Die „Neue Weltordnung“ ist für den Verschwörungstheoretiker also das Resultat des Strippenziehens einer Gruppe von einflussreichen Verschwörern; anstatt als Ergebnis der prozessualen Entwicklung der dem Kapitalismus innewohnenden Widersprüche begriffen zu werden. Die meisten politischen Verschwörungen, die es zweifellos gibt, sind nur aus dieser destruktiven Dynamik, die dem kapitalistischen System innewohnt, zu erklären. Letztendlich ist es der Drang des Kapitals nach permanenter Expansion und die dafür notwendige Jagd nach Rohstoffen, was die imperialen Mächte zu ihren blutigen Abenteuern treibt. Die Verschwörungen, von Regierungsmitgliedern und Industriellen, die teilweise solchen Kriegen vorhergehen, sind nur Folge - und nicht Ursache! - dieses besagten gesellschaftlichen Verhältnisses. Es ist das System, das selbst die mächtigsten Akteure – selbst einen George Bush, Rupert Murdoch oder George Soros – zu getriebenen macht. „Bei Strafe ihres eigenen ökonomischen Untergangs“ haben sie gemäß der gleichen Systemlogik der Kapitalverwertung zu agieren. Solange es den Kapitalismus gibt, wird das Verschwörungen geben, werden Verschwörungsideologen daran irre werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass den Verschwörungsideologen das Bewusstsein vom historischen Charakters unserer Gesellschaftsformationen fehlt. Der Kapitalismus ist eine blinde Voraussetzung ihrer Ideologie und ist folglich auch nicht Gegenstand ihrer Betrachtungen. Die aus dem widersprüchlichen Charakter der Kapitalakkumulation resultierenden gesellschaftlichen Verwerfungen werden hingegen – in der Tradition des verkürzten bürgerlichen Aufklärungsbegriffs - auf den bösen Willen einer Gruppe böser Menschen, also einer Verschwörerclique, zurückgeführt.
Nun dürfte auch die eingangs vorgenommene und zur Diskussion gestellte begriffliche Scheidung zwischen Verschwörungstheoretikern und Verschwörungsideologen klar werden: Auf den ersten Blick scheint es tatsächlich so, als ob ein Verschwörungsideologe „Aufklärung“ betreiben würde, da es ja tatsächlich auch in unserer Zeit an Verschwörungen nicht mangelt. Und schließlich können Verschwörungsideologen echte Verschwörungen aufdecken. Auch ein ideologisch verblendetes Huhn findet mal ein Körnchen Wahrheit. Dennoch – bei aller oberflächlichen Ähnlichkeit - hat das Treiben der Verschwörungsideologen nichts mit echter, der Erkenntnis unserer Gesellschaftstruktur dienender Aufklärung zu tun. Einem der Erkenntnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge verpflichteten Verschwörungstheoretiker dient eine aufgedeckte Verschwörung vor allem zur Illustierung der dem Kapitalismus innewohnenden Antagonismen, die aus seiner Struktur als Klassengesellschaft - und der widerspruchsvollen Dynamik der Kapitalakkumulation - resultieren. Eine aufgedeckte Verschwörung dient dem Verschwörungstheoretiker folglich dazu, anhand dieses konkreten Beispiels die Notwendigkeit der Überwindung unserer kapitalistischen Produktionsweise aufzuzeigen, die eben mit gesetzesmäßiger Zwangsläufigkeit Krisen, Kriege und auch Verschwörungen hervorbringt.
Der Verschwörungsideologe sieht hingegen in jeder aufgedeckten Verschwörung nur einen weiteren Ansporn, nach dem nächsten Komplott zu suchen. Mit jeder aufgedeckten Intrige verfestigt sich bei ihm seine Wahnvorstellung, der zufolge es da eine oberste aller Verschwörung wird, welche hinter den Kulissen alle Strippen zieht und die Geschicke der Welt lenkt. Für ihn bleibt die Welt eine einzige Weltverschwörung. Dieses Denken ist höchst gefährlich. Die Erlösung aus diesem paranoiden Wahnsystem scheint dem Verschwörungideologen nur in der Auslöschung der Gruppe möglich, die er der Verschwörung bezichtigt.
Es muss hier aber auch in aller Deutlichkeit abschließend festgehalten werden, dass man den Verschwörungsglauben nicht automatisch als Faschismus bezeichnen darf. Viele Verschwörungsideologen haben eher ein progressives, fortschrittliches Selbstbild. Sie sehen sich als Kämpfer gegen eine verschwörerischen Machtelite, die mittels einer verbrecherischen Politik die Welt zu beherrschen trachtet. Dennoch muss auf die strukturellen Übereinstimmungen des Verschwörungsglaubens mit der faschistischen Ideologie hingewiesen werden: Es waren insbesondere die Nazis, die konsequent die kapitalistische Welt als ein einzige Weltverschwörung wahrnahmen. All die ungeheuren Widersprüche kapitalistischer Vergesellschaftung, ihre Krisenanfälligkeit und die ungeheure Verelendung breitester Bevölkerungsschichten während der letzten Weltwirtschaftskrise wurden auf das bösartige und gesellschaftersetzende Wirken einer verschworenen Gruppe von Menschen – in diesem Fall der Juden – zurückgeführt. Das jeglicher menschlichen Eigenschaften entkleidete antisemitische Wahnbild „des Juden“ fungierte hier als die Personifizierung aller negativen Auswirkungen kapitalistischer Vergesellschaftung.
Dies ist ja das genaue Gegenteil linker, antikapitalistischer Theoriebildung und Praxis, die ja gerade auf die Erkenntnis und Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse abzielt - und sich nicht in der fiebrig-wahnhaften Suche nach irgendwelchen Sündenböcken verliert.
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