[MEINUNG/KOMMENTAR] "Nationalismus? So etwas gibt es in Südtirol nicht. Bei den Italienern in Bozen schon, natürlich: Es sind ja schließlich die italienische Nationalisten, die am Siegesplatz feiern, Alleanza wählen und dieses Land immer noch "Alto Adige" nennen.
Aber selbst, hier in Deutsch-Südtirol, gebe es so etwas nicht. Wir sind nur Patrioten, feiern in St. Leonhard, wählen Union und schreiben gewissentlich Süd-Tirol (die Hardliner sprechen es auch so). Aber Patriot zu sein ist in Ordnung, ein bisschen "gesunder Patriotismus" habe ja noch niemandem geschadet." So oder ähnlich könnte die landläufige Meinung bei deutschsprachigen SüdtirolerInnen lauten.
Dabei sind viele, die sich "patriotisch" nennen, vom wissenschaftlichen Standpunkt her als nationalistisch einzustufen: Entweder sie gehören zu denen, welche die Rückkehr zu "ihrem Vaterland Österreich" fordern oder gar zu denen, die sich national nennen, nationalsozialistisch sind und die Vereinigung des "großdeutschen Kulturraumes" herbeisehnen. Diejenigen, die auch nach wissenschaftlichen Kriterien Patrioten sind, gibt es natürlich auch, und nicht in geringer Zahl. Was unterscheidet nun die einen von den anderen?
Böser Nationalismus vs. guter Patriotismus?
Nationalistische Ideologien bauen grundsätzlich auf den Kategorien "Volk" und Staat auf; sie zielen auf eine Einheit von beiden ab und begründen es mit dem "Selbstbestimmungsrecht der Völker", wonach jedes "Volk" das Recht auf Selbstorganisation in einem eigenen Staat habe. (Dieses "Selbstbestimmungsrecht" erfreute sich so großer Popularität, dass dieses es bis ins die Charta der UNO geschafft hat.)
Interessant ist hierbei, dass Nationalismen ursprünglich vereinigend gewirkt haben, ihre Kraft war die Inklusion und schuf aus vielen zerstrittenen, zersplitterten Clans, Stämmen und Grüppchen das, was wir heute als Nationalstaaten kennen (Beispiel Deutschland und Italien). Nachdem sich diese in Europa zumindest weitestgehend durchgesetzt und verfestigt hatten (und Progressive die nächste Stufe der Einigung, die europäische anstrebten), verharrten die Nationalismen auf ihrer Volk-Staat-Kombination und wirkten fortan umgekehrt: Die Kraft war nun die der Ausschließung, Ausgrenzung; moderne Nationalismen sind stark chauvinistisch und rassistisch geprägt und haben ausgrenzende Funktion. Alles Fremde wird als minderwertig empfunden und muss bekämpft oder zumindest fern gehalten werden.
Beachtlich, dass sich genau diejenigen NationalistInnen heute auf die kulturelle Vielfalt ("Europa der Völker") berufen und den Erhalt ihrer Kultur fordern, wobei doch gerade diese auf den Trümmern von einer Vielzahl von kulturell differenten Stammesgrüppchen, Herzogtümern o.ä. errichtet, die zugunsten einer homogenen Nation eingeebnet wurden.
Und was ist nun mit der "Vaterlandsliebe" der PatriotenInnen? Sie unterscheidet sich darin, dass sie nicht so dominant auftritt und toleranter ist - sowohl nach innen, als auch nach außen. Dennoch: Auch der Patriotismus glaubt, es gäbe so etwas wie ein "Volk", das Anspruch auf ein bestimmtes Territorium hat. Die Grenzen zwischen den beiden sind zudem fließend: "Nach Erkenntnissen des Psychologen Christopher Cohrs von der Universität Jena lassen sich Menschen nicht in gute Patrioten und böse Nationalisten einteilen. Bürger, die sich stark mit ihrem Land identifizieren, so Cohrs, seien anfällig für intolerantes und ausländerfeindliches Gedankengut: "Menschen mit patriotischen Einstellungen lehnen Nationalismus nicht ab. Vielmehr geht beides oft Hand in Hand." (Die Mär vom guten Patrioten - sueddeutsche.de)
Das Volk - ein Konstrukt
Meist wird im deutschen Sprachgebrauch unter dem Begriff "Volk" eine "Verkörperung geschichtlicher und kultureller gemeinsamer Entwicklung, unabhängig von politischer Begrenzung und Staatsform" (Spiegel Wissen) verstanden; oft wird er auch im Sinne von Bevölkerung, also Menschen, die an einem bestimmten Ort leben, verwendet („Volksabstimmung“) oder zur Bezeichnung der unteren Gesellschaftsschicht ("einfaches Volk", popolo im Italienischen).
Der patriotisch/nationalistische und faschistische Gebrauch dieses Wortes zielt aber immer darauf ab, eine Gemeinschaft von Menschen als "natürlich", homogen und unveränderlich darzustellen (z.B. "Südtirol - seit 1200 Jahren deutsch" oder die "deutsche Volksgemeinschaft"). Er unterstellt, es gäbe eine allgemeingültige Definition davon, wer als Angehöriger gelten kann - und somit auch, wer nicht dazu gehört. Weiters impliziert dies die Vorstellung, es gäbe ein Stück Land, welches diesem "Volk" von Natur aus gehört - was immer das auch heißen mag, kennt man die Geschichte der Entwicklung der Menschen und der Völkerwanderungen.
So gesehen ist diese Vorstellung von "Volk" eine Fiktion, eine Einbildung - und noch dazu eine gefährliche mit großem Konfliktpotential, die dann tödlich wirken kann, wenn versucht wird, sie zu verabsolutieren. In jedem Fall aber, egal welche „offiziellen“ Definitionen (gemeinsame Geschichte, ethnische und kulturelle Verbindung, ecc.), die mehr technischen als ideologischen Charakter haben, herangezogen werden: Es bleibt eine vom Menschen konstruierte Kategorie.
Keine Grenzen außer die der Physik
Zentral bei all diesen Ideologien ist die Annahme, dass es Grenzen gäbe, die natürlich im Sinne von unveränderlich sind: Ob nun Nazis Juden ermordeten, weil sie einer antivölkischen "Rasse" angehörten; ob Homosexuelle gemobbt werden, weil sie nicht ins einfache Frau-Mann-Schema passen oder ob Nationalisten den "Kampf der Kulturen" ausrufen - dies alles beruht auf durch Vernunft und Wissenschaft widerlegte Argumentationen. Grenzen sind menschengemacht und existieren nur in den Köpfen der Menschen - kein Reh, Bär oder Vogel hält sich etwa die Linien auf dem Papier, um die so viel gestritten wird. Aber Grenzen sind immer auch diskriminierend: Eben weil sie ein hier von einem dort trennen und nur dazu dienen, auszuschließen (von Teilhabe, Reichtum, Freiheit) - und genau deshalb muss die Scheinhaftigkeit von Grenzen aufgezeigt und sie selbst dadurch abgebaut und überwunden werden, fortwährend und überall.
Wie beispielsweise die zwischen den Kulturen: Kulturen sind Lebensweisen, eine Art und Weise, mit Geschichte und Umwelt umzugehen, nicht mehr und nicht weniger. Sie sind dynamisch entstanden, haben Elemente anderer Kulturen aufgenommen, andere abgelegt, und sie verändern sich fortwährend. Ebenso verhält es sich mit den Sprachen. Es gibt keine klaren Grenzen zwischen den einzelnen Kulturen, schon gar nicht räumlich-territorielle wie die NationalistInnen immer wieder unterstellen: Kulturen überlappen sich, gehen ineinander über, vermischen sich an den Rändern und verändern fortwährend ihren Kern - das ist der natürliche Prozess.
Zwei Möglichkeiten gibt es nun, zwei Richtungen, die sich in Anbetracht all dieser ausgeführten Tatsachen eröffnen und die uns geradewegs wieder zu unserem Ausgangspunkt, dem kleinen Land Südtirol, bringen: Wenn wir weiterhin der Logik des „Selbstbestimmungsrechtes der Völker“ folgen wollen, so gäbe es heute nicht rund 200 Staaten (mit mehr oder weniger durchlässigen Grenzen drum herum), sondern über 5.200 – so viele „Völker“ soll es nämlich ungefähr geben. Eine Frage bleibt nämlich unbeantwortet: Warum haben nur „Völker“ ein Recht auf Selbstbestimmung (und das Recht, einen eigene Organisationsform wie das der Staat eine ist, zu wählen)? Wieso nicht auch Untergruppen: Südtirol ist nicht Italien, Burggrafenamt ist nicht Südtirol, Obermais ist nicht Meran, meine Familie ist nicht Meran, ich bin nicht meine Familie…
Südtirol - Opfer- und Täterland
Die Selbstbestimmung zu fordern ist durchaus legitim (sofern sie nicht nur auf DIE Südtiroler bezogen ist), weil es einfach eine Forderung nach demokratischer Partizipation und Gleichberechtigung ist. Es aber damit zu begründen, dass eine "völkische Einheit" wieder hergestellt werden müsse, entbehrt jeder rationalen Grundlage (und eine Tiroler Einheit durch Gottes Gnaden oder aufgrund von Blutsverwandschaft gehören eindeutig nicht dazu).
Dass die Selbstbestimmungsaktivisten in Südtirol heute in der Regel aus dem rechten Spektrum kommen (die nette Gruppe der Brennerbasisdemokraten stellen hier die Ausnahme dar) und sich auf die völkisch-nationalistische Argumentationslinie berufen, ist dem Land und seiner Geschichte geschuldet. Das Wiederaufleben von Tradition und Patriotismus und das Rückbesinnen auf "alte Werte" ging zu einem guten Teil auch auf die Trennung von Österreich zurück und geht es noch immer: "Die Betonung von traditionellen Elemeten des Tirolertums war eine Reaktion auf die neue Lage der Südtiroler als Minderheit. Der Tiroler-Adler und symbolträchtige Motive aus der Geschichte Tirols wurden nun zu zentralen Gestaltungselementen der Kalender-Titelblätter." (Geschichte Südtirols Option - Opzioni)
Was dazu führte, dass die Unterscheidung zwischen gut und böse, zwischen Freund und Feind verzerrt wurde: Die Italiener wurden zum Feindbild stilisiert (was ja gelegen kam - man wollte ja Weg vom italienischen Staat), ihnen wurde die Schuld für die Verbrechen gegeben, die unter Faschismus, Optionsdruck und Nachkriegsrepression verübt wurden. Und selbst heute glauben das noch viele deutschsprachige SüdtirolerInnen (weshalb sich so manch ein Selbstbestimmungsaktivist verleitet sieht, sich dieser alten Ressentiments zu bedienen). Die Italiener also waren schuld?
Was war mit all den Italienern, die in den Reihen der Partisanen kämpften, in ganz Italien und auch in Bozen, wo sie sich im CLN organisierten? All die Italiener, die zwangsversetzt wurden, auf irgendeinen Bergbauernhof? All die ItalienerInnen, die im historischen Tirol gelebt hatten, vor allem im Trentino? Die wahre Front verlief also anders, wurde aber zugunsten anderer politischer Motivationen falsch verkündet (was sich auch nicht änderte, als die Nazis diesen südlichsten Zipfel "verrieten" und dazu führte, dass es zu keiner echten Aufarbeitung dieser Zeit kam).
Südtirol - eine Heimat für alle
Die Front verlief also schlicht und einfach zwischen nationalistischen/faschistischen Menschen und solchen, in deren Augen die Menschen gleichwertig sind, unabhängig von Herkunft, Sprache oder Kultur. Und dort verläuft die Front noch immer, obgleich viele durch den Nationalismus der anderen selbst nationalistischem Denken verfallen sind - ein Teufelskreis.
Wenn wir also an die Zukunft dieses Sückchens Erde denken, müssen wir uns dieser falschen Denkmuster und -kategorien von "Volk", "Nation" und "Vaterland" entledigen - ebenso wie wir sie nicht an eine ethnische Zugehörigkeit (was heißt das überhaupt?) knüpfen dürfen. Erst mit diesen Grundannahmen, auf dieser Basis können wir ernsthaft und seriös über gesellschaftlich-zukünftiges reden, denn: Es geht darum, dass wir verhindern müssen, dass diejenigen, die über große Macht verfügen, den Schwächeren ihren Willen (Sprache, Kultur, was auch immer) aufzwingen wollen. Das ist der Kern der Angelegenheit, dagegen müssen wir kämpfen.
Und wofür sollen wir uns einsetzen, wo wollen wir, die wir hier leben, überhaupt hin? Dreierlei gäbe es anzustreben: Freiheit, Wohlstand und - eine Heimat für die größtmögliche Anzahl von Menschen. Freiheit, weil es das oberste aller Ziele ist, aber nur gemeinsam erreicht werden kann (durch Gleichheit). Wohlstand, weil er verfügbar ist und wir neue Modelle brauchen (keine kapitalistischen, in denen der Profit die Maxime ist, sondern Modelle, bei denen das menschliche Wohl an erster Stelle steht). Und Heimat.
Entgegen vieler Vereinnahmungsversuche durch Nationalisten ist Heimat nicht mit "Vaterland" gleichzusetzen. Heimat ist etwas subjektives und kennt keine territorialen Grenzen, hat also mehr mit (persönlicher) Emotion und Passion zu tun: Jeder will eine Heimat, etwas, in dem er/sie sich wohl fühlt und leben möchte. Es vermischen sich also soziale Geflechte, Freundschaften, kulturelle, kulinarische und territioriale Elemente zu einem angenehmen Gemisch, das sich Heimat nennt. Durch moderne Kommunikations- und Transportmittel ist dieser Begriff, der Wert und Gut gleichzeitig ist, immer weniger lokalisierbar, also an einen (einzigen) geografischen Ort festzumachen. Die Heimat kann in Pfelders sein und Berlin, es können Spaghetti darin vorkommen ebenso wie Knödel oder Kebab, gefärbte Haare und Nietengürtel mögen Teil davon sein wie auch Trachtenanzug und Kruzifix.
Südtirol soll ein Ort werden, in dem Heimat gedeihen kann, wo sie nicht von sprachlich/kulturell/religiösen Messern zerschnitten wird oder ebensolche Mauern ihr Gedeihen verhindert. Wo Südtirol sich dann befindet, ob dort, wo es jetzt ist, bei Österreich oder als Freistaat ist dann sekundär (obwohl alle grundlegenden Veränderungen vom Status Quo eine ungeheure Zeit- und Kraftinvestition verlangt und wahrscheinlich eine Entfernung von diesem ersten Ziel mit sich bringen). Die Voraussetzungen für „Heimat“ im weitesten Sinne müssen geschaffen werden, und die Kräfte gebündelt, in einer neuen Sammelpartei. Eine Partei nicht im politischen Sinne, welche die Macht übernehmen will, sondern als Bewegung, die Partei ergreift für oben genannte Ziele. Und dabei alle, wirklich alle Menschen sammelt, miteinbezieht, die daran teilhaben möchten und gemeinsam verkünden: Nationalisten, lasst uns unsre Heimat!
Aber selbst, hier in Deutsch-Südtirol, gebe es so etwas nicht. Wir sind nur Patrioten, feiern in St. Leonhard, wählen Union und schreiben gewissentlich Süd-Tirol (die Hardliner sprechen es auch so). Aber Patriot zu sein ist in Ordnung, ein bisschen "gesunder Patriotismus" habe ja noch niemandem geschadet." So oder ähnlich könnte die landläufige Meinung bei deutschsprachigen SüdtirolerInnen lauten.
Dabei sind viele, die sich "patriotisch" nennen, vom wissenschaftlichen Standpunkt her als nationalistisch einzustufen: Entweder sie gehören zu denen, welche die Rückkehr zu "ihrem Vaterland Österreich" fordern oder gar zu denen, die sich national nennen, nationalsozialistisch sind und die Vereinigung des "großdeutschen Kulturraumes" herbeisehnen. Diejenigen, die auch nach wissenschaftlichen Kriterien Patrioten sind, gibt es natürlich auch, und nicht in geringer Zahl. Was unterscheidet nun die einen von den anderen?
Böser Nationalismus vs. guter Patriotismus?
Nationalistische Ideologien bauen grundsätzlich auf den Kategorien "Volk" und Staat auf; sie zielen auf eine Einheit von beiden ab und begründen es mit dem "Selbstbestimmungsrecht der Völker", wonach jedes "Volk" das Recht auf Selbstorganisation in einem eigenen Staat habe. (Dieses "Selbstbestimmungsrecht" erfreute sich so großer Popularität, dass dieses es bis ins die Charta der UNO geschafft hat.)
Interessant ist hierbei, dass Nationalismen ursprünglich vereinigend gewirkt haben, ihre Kraft war die Inklusion und schuf aus vielen zerstrittenen, zersplitterten Clans, Stämmen und Grüppchen das, was wir heute als Nationalstaaten kennen (Beispiel Deutschland und Italien). Nachdem sich diese in Europa zumindest weitestgehend durchgesetzt und verfestigt hatten (und Progressive die nächste Stufe der Einigung, die europäische anstrebten), verharrten die Nationalismen auf ihrer Volk-Staat-Kombination und wirkten fortan umgekehrt: Die Kraft war nun die der Ausschließung, Ausgrenzung; moderne Nationalismen sind stark chauvinistisch und rassistisch geprägt und haben ausgrenzende Funktion. Alles Fremde wird als minderwertig empfunden und muss bekämpft oder zumindest fern gehalten werden.
Beachtlich, dass sich genau diejenigen NationalistInnen heute auf die kulturelle Vielfalt ("Europa der Völker") berufen und den Erhalt ihrer Kultur fordern, wobei doch gerade diese auf den Trümmern von einer Vielzahl von kulturell differenten Stammesgrüppchen, Herzogtümern o.ä. errichtet, die zugunsten einer homogenen Nation eingeebnet wurden.
Und was ist nun mit der "Vaterlandsliebe" der PatriotenInnen? Sie unterscheidet sich darin, dass sie nicht so dominant auftritt und toleranter ist - sowohl nach innen, als auch nach außen. Dennoch: Auch der Patriotismus glaubt, es gäbe so etwas wie ein "Volk", das Anspruch auf ein bestimmtes Territorium hat. Die Grenzen zwischen den beiden sind zudem fließend: "Nach Erkenntnissen des Psychologen Christopher Cohrs von der Universität Jena lassen sich Menschen nicht in gute Patrioten und böse Nationalisten einteilen. Bürger, die sich stark mit ihrem Land identifizieren, so Cohrs, seien anfällig für intolerantes und ausländerfeindliches Gedankengut: "Menschen mit patriotischen Einstellungen lehnen Nationalismus nicht ab. Vielmehr geht beides oft Hand in Hand." (Die Mär vom guten Patrioten - sueddeutsche.de)
Das Volk - ein Konstrukt
Meist wird im deutschen Sprachgebrauch unter dem Begriff "Volk" eine "Verkörperung geschichtlicher und kultureller gemeinsamer Entwicklung, unabhängig von politischer Begrenzung und Staatsform" (Spiegel Wissen) verstanden; oft wird er auch im Sinne von Bevölkerung, also Menschen, die an einem bestimmten Ort leben, verwendet („Volksabstimmung“) oder zur Bezeichnung der unteren Gesellschaftsschicht ("einfaches Volk", popolo im Italienischen).
Der patriotisch/nationalistische und faschistische Gebrauch dieses Wortes zielt aber immer darauf ab, eine Gemeinschaft von Menschen als "natürlich", homogen und unveränderlich darzustellen (z.B. "Südtirol - seit 1200 Jahren deutsch" oder die "deutsche Volksgemeinschaft"). Er unterstellt, es gäbe eine allgemeingültige Definition davon, wer als Angehöriger gelten kann - und somit auch, wer nicht dazu gehört. Weiters impliziert dies die Vorstellung, es gäbe ein Stück Land, welches diesem "Volk" von Natur aus gehört - was immer das auch heißen mag, kennt man die Geschichte der Entwicklung der Menschen und der Völkerwanderungen.
So gesehen ist diese Vorstellung von "Volk" eine Fiktion, eine Einbildung - und noch dazu eine gefährliche mit großem Konfliktpotential, die dann tödlich wirken kann, wenn versucht wird, sie zu verabsolutieren. In jedem Fall aber, egal welche „offiziellen“ Definitionen (gemeinsame Geschichte, ethnische und kulturelle Verbindung, ecc.), die mehr technischen als ideologischen Charakter haben, herangezogen werden: Es bleibt eine vom Menschen konstruierte Kategorie.
Keine Grenzen außer die der Physik
Zentral bei all diesen Ideologien ist die Annahme, dass es Grenzen gäbe, die natürlich im Sinne von unveränderlich sind: Ob nun Nazis Juden ermordeten, weil sie einer antivölkischen "Rasse" angehörten; ob Homosexuelle gemobbt werden, weil sie nicht ins einfache Frau-Mann-Schema passen oder ob Nationalisten den "Kampf der Kulturen" ausrufen - dies alles beruht auf durch Vernunft und Wissenschaft widerlegte Argumentationen. Grenzen sind menschengemacht und existieren nur in den Köpfen der Menschen - kein Reh, Bär oder Vogel hält sich etwa die Linien auf dem Papier, um die so viel gestritten wird. Aber Grenzen sind immer auch diskriminierend: Eben weil sie ein hier von einem dort trennen und nur dazu dienen, auszuschließen (von Teilhabe, Reichtum, Freiheit) - und genau deshalb muss die Scheinhaftigkeit von Grenzen aufgezeigt und sie selbst dadurch abgebaut und überwunden werden, fortwährend und überall.
Wie beispielsweise die zwischen den Kulturen: Kulturen sind Lebensweisen, eine Art und Weise, mit Geschichte und Umwelt umzugehen, nicht mehr und nicht weniger. Sie sind dynamisch entstanden, haben Elemente anderer Kulturen aufgenommen, andere abgelegt, und sie verändern sich fortwährend. Ebenso verhält es sich mit den Sprachen. Es gibt keine klaren Grenzen zwischen den einzelnen Kulturen, schon gar nicht räumlich-territorielle wie die NationalistInnen immer wieder unterstellen: Kulturen überlappen sich, gehen ineinander über, vermischen sich an den Rändern und verändern fortwährend ihren Kern - das ist der natürliche Prozess.
Zwei Möglichkeiten gibt es nun, zwei Richtungen, die sich in Anbetracht all dieser ausgeführten Tatsachen eröffnen und die uns geradewegs wieder zu unserem Ausgangspunkt, dem kleinen Land Südtirol, bringen: Wenn wir weiterhin der Logik des „Selbstbestimmungsrechtes der Völker“ folgen wollen, so gäbe es heute nicht rund 200 Staaten (mit mehr oder weniger durchlässigen Grenzen drum herum), sondern über 5.200 – so viele „Völker“ soll es nämlich ungefähr geben. Eine Frage bleibt nämlich unbeantwortet: Warum haben nur „Völker“ ein Recht auf Selbstbestimmung (und das Recht, einen eigene Organisationsform wie das der Staat eine ist, zu wählen)? Wieso nicht auch Untergruppen: Südtirol ist nicht Italien, Burggrafenamt ist nicht Südtirol, Obermais ist nicht Meran, meine Familie ist nicht Meran, ich bin nicht meine Familie…
Südtirol - Opfer- und Täterland
Die Selbstbestimmung zu fordern ist durchaus legitim (sofern sie nicht nur auf DIE Südtiroler bezogen ist), weil es einfach eine Forderung nach demokratischer Partizipation und Gleichberechtigung ist. Es aber damit zu begründen, dass eine "völkische Einheit" wieder hergestellt werden müsse, entbehrt jeder rationalen Grundlage (und eine Tiroler Einheit durch Gottes Gnaden oder aufgrund von Blutsverwandschaft gehören eindeutig nicht dazu).
Dass die Selbstbestimmungsaktivisten in Südtirol heute in der Regel aus dem rechten Spektrum kommen (die nette Gruppe der Brennerbasisdemokraten stellen hier die Ausnahme dar) und sich auf die völkisch-nationalistische Argumentationslinie berufen, ist dem Land und seiner Geschichte geschuldet. Das Wiederaufleben von Tradition und Patriotismus und das Rückbesinnen auf "alte Werte" ging zu einem guten Teil auch auf die Trennung von Österreich zurück und geht es noch immer: "Die Betonung von traditionellen Elemeten des Tirolertums war eine Reaktion auf die neue Lage der Südtiroler als Minderheit. Der Tiroler-Adler und symbolträchtige Motive aus der Geschichte Tirols wurden nun zu zentralen Gestaltungselementen der Kalender-Titelblätter." (Geschichte Südtirols Option - Opzioni)
Was dazu führte, dass die Unterscheidung zwischen gut und böse, zwischen Freund und Feind verzerrt wurde: Die Italiener wurden zum Feindbild stilisiert (was ja gelegen kam - man wollte ja Weg vom italienischen Staat), ihnen wurde die Schuld für die Verbrechen gegeben, die unter Faschismus, Optionsdruck und Nachkriegsrepression verübt wurden. Und selbst heute glauben das noch viele deutschsprachige SüdtirolerInnen (weshalb sich so manch ein Selbstbestimmungsaktivist verleitet sieht, sich dieser alten Ressentiments zu bedienen). Die Italiener also waren schuld?
Was war mit all den Italienern, die in den Reihen der Partisanen kämpften, in ganz Italien und auch in Bozen, wo sie sich im CLN organisierten? All die Italiener, die zwangsversetzt wurden, auf irgendeinen Bergbauernhof? All die ItalienerInnen, die im historischen Tirol gelebt hatten, vor allem im Trentino? Die wahre Front verlief also anders, wurde aber zugunsten anderer politischer Motivationen falsch verkündet (was sich auch nicht änderte, als die Nazis diesen südlichsten Zipfel "verrieten" und dazu führte, dass es zu keiner echten Aufarbeitung dieser Zeit kam).
Südtirol - eine Heimat für alle
Die Front verlief also schlicht und einfach zwischen nationalistischen/faschistischen Menschen und solchen, in deren Augen die Menschen gleichwertig sind, unabhängig von Herkunft, Sprache oder Kultur. Und dort verläuft die Front noch immer, obgleich viele durch den Nationalismus der anderen selbst nationalistischem Denken verfallen sind - ein Teufelskreis.
Wenn wir also an die Zukunft dieses Sückchens Erde denken, müssen wir uns dieser falschen Denkmuster und -kategorien von "Volk", "Nation" und "Vaterland" entledigen - ebenso wie wir sie nicht an eine ethnische Zugehörigkeit (was heißt das überhaupt?) knüpfen dürfen. Erst mit diesen Grundannahmen, auf dieser Basis können wir ernsthaft und seriös über gesellschaftlich-zukünftiges reden, denn: Es geht darum, dass wir verhindern müssen, dass diejenigen, die über große Macht verfügen, den Schwächeren ihren Willen (Sprache, Kultur, was auch immer) aufzwingen wollen. Das ist der Kern der Angelegenheit, dagegen müssen wir kämpfen.
Und wofür sollen wir uns einsetzen, wo wollen wir, die wir hier leben, überhaupt hin? Dreierlei gäbe es anzustreben: Freiheit, Wohlstand und - eine Heimat für die größtmögliche Anzahl von Menschen. Freiheit, weil es das oberste aller Ziele ist, aber nur gemeinsam erreicht werden kann (durch Gleichheit). Wohlstand, weil er verfügbar ist und wir neue Modelle brauchen (keine kapitalistischen, in denen der Profit die Maxime ist, sondern Modelle, bei denen das menschliche Wohl an erster Stelle steht). Und Heimat.
Entgegen vieler Vereinnahmungsversuche durch Nationalisten ist Heimat nicht mit "Vaterland" gleichzusetzen. Heimat ist etwas subjektives und kennt keine territorialen Grenzen, hat also mehr mit (persönlicher) Emotion und Passion zu tun: Jeder will eine Heimat, etwas, in dem er/sie sich wohl fühlt und leben möchte. Es vermischen sich also soziale Geflechte, Freundschaften, kulturelle, kulinarische und territioriale Elemente zu einem angenehmen Gemisch, das sich Heimat nennt. Durch moderne Kommunikations- und Transportmittel ist dieser Begriff, der Wert und Gut gleichzeitig ist, immer weniger lokalisierbar, also an einen (einzigen) geografischen Ort festzumachen. Die Heimat kann in Pfelders sein und Berlin, es können Spaghetti darin vorkommen ebenso wie Knödel oder Kebab, gefärbte Haare und Nietengürtel mögen Teil davon sein wie auch Trachtenanzug und Kruzifix.
Südtirol soll ein Ort werden, in dem Heimat gedeihen kann, wo sie nicht von sprachlich/kulturell/religiösen Messern zerschnitten wird oder ebensolche Mauern ihr Gedeihen verhindert. Wo Südtirol sich dann befindet, ob dort, wo es jetzt ist, bei Österreich oder als Freistaat ist dann sekundär (obwohl alle grundlegenden Veränderungen vom Status Quo eine ungeheure Zeit- und Kraftinvestition verlangt und wahrscheinlich eine Entfernung von diesem ersten Ziel mit sich bringen). Die Voraussetzungen für „Heimat“ im weitesten Sinne müssen geschaffen werden, und die Kräfte gebündelt, in einer neuen Sammelpartei. Eine Partei nicht im politischen Sinne, welche die Macht übernehmen will, sondern als Bewegung, die Partei ergreift für oben genannte Ziele. Und dabei alle, wirklich alle Menschen sammelt, miteinbezieht, die daran teilhaben möchten und gemeinsam verkünden: Nationalisten, lasst uns unsre Heimat!
Ottimo contributo, su cui riflettere.
RispondiEliminaComplimenti all'autore.
(p.s. chi è l'autore? Andreas?)