[MEINUNG] Das womöglich Enttäuschendste zuerst: Die Diskussion über „Werteerziehung" in der Schule wird derzeit so geführt, als könnten entweder Ethikunterricht oder Religionsunterricht unsere lieben Kleinen zu moralischen Individuuen machen.
Ehrlicherweise muss man voraussetzen, dass beides nicht so leicht klappt. Unterrichtsfächer - egal ob sie „Ethik" oder „Religion" heißen - sind eher ungeeignet für das Unterfangen. Werte werden durch Exempel vermittelt, also etwa durch Menschen, die sich gerecht verhalten - da kann der Biologielehrer, der sich gerecht verhält, oder der Mathematiklehrer, der sich ungerecht verhält (und gegen dessen Ungerechtigkeit sich dann vielleicht die Klassengemeinschaft erhebt) womöglich mehr an Herzensbildung zustande bringen, als irgendein Lehrer, dessen Unterrichtsgegenstand „Werte" sind. Meist werden die Kids die Ohren zuklappen, wenn er den Klassenraum betritt. Schule ist eben Schule, Schüler sind eben Schüler. Man kann über „Werteerziehung" nicht sprechen, und vom spezifischen Setting der Schule absehen.
Dies vorausgesetzt, spricht freilich nichts dafür, dass ein religiös, was in der Praxis heißt: konfessionell, gebundener Religionsunterricht ein mehr an Moralität und friedlichem Zusammenleben fördert. Zunächst konzentriert er in seinem Unterricht die Angehörigen einer Konfession, er fördert also den Rückzug in die eigene Identität. Er sistiert die gemeinsame Diskussion über Werte. Die Betonung der eigenen religiösen Identität und die Abgrenzung gegenüber anderen religiösen Identitäten macht die Welt aber nicht besser - um es vorsichtig zu sagen. Der Durchschnittsgläubige wird den Nachbarn dann als „Anderen" erleben, der überspannte Gläubige wird ihn als „Ungläubigen" sehen, der durchgeknallte Gläubige wird sich an einer Autobusstation in die Luft sprengen (gut, letzteres kommt in unseren Breiten eher selten vor).
Die Debatte, wie sie von religiöser Seite in den letzten Jahren immer wieder angezettelt wird, hat aber freilich einen Subtext, der über die Frage konfessionellen Unterrichts hinausgeht. Es wird insinuiert, Individuen wären moralischer, wenn sie einen Gott über sich wähnten, wenn sie religiös gebunden sind. Säkularisierung wird in dieser Perspektive als große Verwirrung gesehen, die Leute wissen nicht mehr, wo sie Halt suchen sollen und können Gut von Böse nicht mehr unterscheiden - so in etwa geht die Argumentationsreihe. Wenn wir uns an die Fakten halten, dann wurden aber gerade in den vergangenen fünfzehn, zwanzig Jahren viele Böswilligkeiten begangen, weil Menschen meinen, ihr Glaube verlange das von ihnen. Ethnische Säuberungen in Kroatien, Serbien, Bosnien, 11. September, „Kampf der Kulturen", „Wir" gegen die „Muslime", Mordanschläge auf Ärzte in Abtreibungskliniken... Das sind, gewiss, Extreme. Aber auch wenn wir uns einigermaßen objektiv (soweit das möglich ist) an Fakten halten, stellt sich die Sache so dar: Es gab in der Geschichte viele gläubige Menschen, die sich ihres Glaubens wegen gut verhalten haben, aber es gab auch viele Menschen, die sich ihres Glaubens wegen schlecht verhalten haben. Amerikanische Christen haben ihres Glaubens wegen gegen die Sklaverei gekämpft - aber viele amerikanische Christen haben mit religiösen Argumenten die Sklaverei legitimiert. Viele Menschen ohne religiösen Glauben haben leidenschaftlich gegen Ungerechtigkeiten gekämpft - und viele Menschen ohne religiösen Glauben haben Ungerechtigkeiten begangen. Dass mehr Religiösität ein mehr an Moralität bedeutet, das ist ein Vorurteil, das von den Konfessionen gerne am Leben erhalten wird, aber durch keine Empirie gedeckt ist, genauso wie wir aus den religiösen Schriften, der Bibel etwa, den Wert der Nächstenliebe ableiten können, aber ebenso die Rechtmäßigkeit ethnischer Säuberungen. Sie versprechen uns Gottes Liebe ebenso wie die ewige Verderbnis. Wer Gutes tun will, kann sich hier mit Zitaten eindecken, wer dem Nächsten das Schlimmste an den Hals wünscht, ebenso. Vielleicht täusche ich mich, aber es scheint mir historisch evident, dass religiöse Menschen in aller Regel härtere autoritäre Knochen waren und sind, als nichtreligiöse Menschen. Religiöse Gesellschaften sind keineswegs moralisch höherstehende als relativ agnostische Gesellschaften. Würde jemand behaupten wollen, Sizilien habe ein höheres moralisches Niveau als Schweden? Norwegen wäre moralisch verkommener als Afghanistan? Schon diese Beispiele zeigen, wie absurd eine solche Behauptung ist. In den USA, wo eine eher religiös grundierte Regierung Folter eingeführt hat und eine eher agnostisch grundierte sie gerade wieder abschaffen musste, gibt es eindeutige empirische Daten: So wurde eine großangelegte Studie unter Ärzten durchgeführt, gefragt war, ob sie gelegentlich auch arme Patienten gratis behandeln. Unter den Ärzten, die sich selbst als religiös bezeichneten, beantworteten 31 Prozent die Frage mit „Ja", unter den nicht gläubigen Ärzten sagten 35 Prozent „Ja". Die Daten zeigen, wenn schon keine deutlich höhere Moralität unter den Ungläubigen, so doch zumindest keinerlei signifikante Differenz.
Um auf unsere Ausgangsfrage zurückzukommen: Würde ein Unterricht mit dem Ziel, aus Schülern Gläubige zu machen - und das ist letztlich das Ziel des Religionsunterrichts - unsere Gesellschaften moralischer machen?
Nichts, aber rein gar nichts spricht dafür.
Robert Misik für die taz (5. Mai 2009)
Dies vorausgesetzt, spricht freilich nichts dafür, dass ein religiös, was in der Praxis heißt: konfessionell, gebundener Religionsunterricht ein mehr an Moralität und friedlichem Zusammenleben fördert. Zunächst konzentriert er in seinem Unterricht die Angehörigen einer Konfession, er fördert also den Rückzug in die eigene Identität. Er sistiert die gemeinsame Diskussion über Werte. Die Betonung der eigenen religiösen Identität und die Abgrenzung gegenüber anderen religiösen Identitäten macht die Welt aber nicht besser - um es vorsichtig zu sagen. Der Durchschnittsgläubige wird den Nachbarn dann als „Anderen" erleben, der überspannte Gläubige wird ihn als „Ungläubigen" sehen, der durchgeknallte Gläubige wird sich an einer Autobusstation in die Luft sprengen (gut, letzteres kommt in unseren Breiten eher selten vor).
Die Debatte, wie sie von religiöser Seite in den letzten Jahren immer wieder angezettelt wird, hat aber freilich einen Subtext, der über die Frage konfessionellen Unterrichts hinausgeht. Es wird insinuiert, Individuen wären moralischer, wenn sie einen Gott über sich wähnten, wenn sie religiös gebunden sind. Säkularisierung wird in dieser Perspektive als große Verwirrung gesehen, die Leute wissen nicht mehr, wo sie Halt suchen sollen und können Gut von Böse nicht mehr unterscheiden - so in etwa geht die Argumentationsreihe. Wenn wir uns an die Fakten halten, dann wurden aber gerade in den vergangenen fünfzehn, zwanzig Jahren viele Böswilligkeiten begangen, weil Menschen meinen, ihr Glaube verlange das von ihnen. Ethnische Säuberungen in Kroatien, Serbien, Bosnien, 11. September, „Kampf der Kulturen", „Wir" gegen die „Muslime", Mordanschläge auf Ärzte in Abtreibungskliniken... Das sind, gewiss, Extreme. Aber auch wenn wir uns einigermaßen objektiv (soweit das möglich ist) an Fakten halten, stellt sich die Sache so dar: Es gab in der Geschichte viele gläubige Menschen, die sich ihres Glaubens wegen gut verhalten haben, aber es gab auch viele Menschen, die sich ihres Glaubens wegen schlecht verhalten haben. Amerikanische Christen haben ihres Glaubens wegen gegen die Sklaverei gekämpft - aber viele amerikanische Christen haben mit religiösen Argumenten die Sklaverei legitimiert. Viele Menschen ohne religiösen Glauben haben leidenschaftlich gegen Ungerechtigkeiten gekämpft - und viele Menschen ohne religiösen Glauben haben Ungerechtigkeiten begangen. Dass mehr Religiösität ein mehr an Moralität bedeutet, das ist ein Vorurteil, das von den Konfessionen gerne am Leben erhalten wird, aber durch keine Empirie gedeckt ist, genauso wie wir aus den religiösen Schriften, der Bibel etwa, den Wert der Nächstenliebe ableiten können, aber ebenso die Rechtmäßigkeit ethnischer Säuberungen. Sie versprechen uns Gottes Liebe ebenso wie die ewige Verderbnis. Wer Gutes tun will, kann sich hier mit Zitaten eindecken, wer dem Nächsten das Schlimmste an den Hals wünscht, ebenso. Vielleicht täusche ich mich, aber es scheint mir historisch evident, dass religiöse Menschen in aller Regel härtere autoritäre Knochen waren und sind, als nichtreligiöse Menschen. Religiöse Gesellschaften sind keineswegs moralisch höherstehende als relativ agnostische Gesellschaften. Würde jemand behaupten wollen, Sizilien habe ein höheres moralisches Niveau als Schweden? Norwegen wäre moralisch verkommener als Afghanistan? Schon diese Beispiele zeigen, wie absurd eine solche Behauptung ist. In den USA, wo eine eher religiös grundierte Regierung Folter eingeführt hat und eine eher agnostisch grundierte sie gerade wieder abschaffen musste, gibt es eindeutige empirische Daten: So wurde eine großangelegte Studie unter Ärzten durchgeführt, gefragt war, ob sie gelegentlich auch arme Patienten gratis behandeln. Unter den Ärzten, die sich selbst als religiös bezeichneten, beantworteten 31 Prozent die Frage mit „Ja", unter den nicht gläubigen Ärzten sagten 35 Prozent „Ja". Die Daten zeigen, wenn schon keine deutlich höhere Moralität unter den Ungläubigen, so doch zumindest keinerlei signifikante Differenz.
Um auf unsere Ausgangsfrage zurückzukommen: Würde ein Unterricht mit dem Ziel, aus Schülern Gläubige zu machen - und das ist letztlich das Ziel des Religionsunterrichts - unsere Gesellschaften moralischer machen?
Nichts, aber rein gar nichts spricht dafür.
Robert Misik für die taz (5. Mai 2009)
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