Was verbindet ein Konzert in Meran mit einer Demonstration in Stuttgart und dem G8-Gipfel in Genua? In allen drei Fällen kam es zu gewalttätigen Übergriffen durch Polizeikräfte , und jedes Mal hatten die Täter in Uniform keine oder nur geringe juristische Konsequenzen zu tragen. Die dokumentierten Fälle und der lange Schatten der vermuteten Dunkelziffer lassen den Schluss zu, dass es sich dabei nicht Einzelfälle, sondern die Regel handelt.
Kürzlich kam es in Südtirol erneut zu einem Zwischenfall dieser Art, der exemplarisch ist und nur in aller Kürze widergegeben wird. Zwei Jugendliche ließen sich in alkoholisiertem Zustand auf eine verbale Auseinandersetzung mit Polizeibeamten ein, infolgedessen sie in die Kaserne gebracht wurden. Dort wurden sie von diesen geschlagen und verletzt, weshalb sie daraufhin Anzeige erstatteten. Daraufhin zögerten die Beamten nicht lange, ihrerseits mittels einer offensichtlich gefälschten Röntgenaufnahme eines gebrochenen Gelenks Anzeige wegen Körperverletzung zu stellen und die beiden Jugendlichen auf Schadensersatz von mehreren tausend Euro zu verklagen. Da die Beweislage gegen die Jugendlichen spricht - es steht Aussage gegen Aussage, die Jugendlichen waren zudem alkoholisiert - sahen sie aus Angst vor weiteren (Prozess)kosten von einem Verfahren ab akzeptierten die Forderungen der Beamten. Verständlicherweise wurde der Fall nie öffentlich gemacht.
Polizeigewalt (1) - kein Einzelfall
Dass es sich dabei um keinen Einzelfall handelt, zeigt nicht erst der erschreckende Bericht von Amnesty International zur Situation in Deutschland, der im Juni 2010 veröffentlicht wurde. Die Misshandlungen von Jugendlichen in der Meraner Carabinieri-Kaserne nach einem Konzert 2009 sind ebenso bekannt wie die zahlreichen dokumentierten Übergriffe durch Polizeikräfte, deren Opfer meist politische Aktivist*innen (etwa bei oder nach Demonstrationen) oder ethnische Minderheiten (bei Abschiebungen o.ä.) sind. Der Bericht von AI dokumentiert exemplarisch 15 Fälle von Übergriffen, worunter drei Todesfälle sind, 896 Personen haben sich in den vergangenen sechs Jahren aufgrund dieser Sachlage an AI gewandt. In Österreich und Italien gibt es ähnliche Fälle, offizielle Statistiken zu Polizeigewalt nirgends. Doch die Zahlen der Verfahren sprechen für sich: So wurde allein im Jahr 2008 gegen Berliner Polizisten in 636 Fällen wegen Körperverletzung im Amt ermittelt. In 615 Fällen stellte die Staatsanwaltschaft die Verfahren ein, sechs beschuldigte Beamte wurden von einem Gericht freigesprochen, nicht einer verurteilt.
Opfer: meist Angehörige von Randgruppen
Oft wird Polizeigewalt als Stressphänomen erklärt, welches in solchen Situationen auftrtitt, in denen Polizist*innen unter erhöhter Spannung stehen, etwa wenn diese nicht genügend vorbereitet sind, zu schlecht ausgerüstet, überfordert oder überarbeitet. Dies mag ein Faktor sein, der jedoch nur eine begrenzte Erklärungskraft hat. Denn die belegten Fälle zeigen, dass Polizeigewalt nicht beliebig auftritt, sondern bestimmte Merkmale aufweist. So gehören die Opfer in der Regel Minderheiten- und Randgruppen an, wie etwa Migrant*innen, Obdachlose und angehörige ethnischer Minderheiten - also alles Gruppen mit beschränkter Beschwerdemacht. Angesichts der Tatsache, dass sich auch "brave Staatsbürger*innnen" oft ohnmächtig gewalttätigen Beamt*innen ausgeliefert sehen, wie oben angeführtes Beispiel zeigt, wird deutlich, wie hoch die Rate an Übergriffe bei jenen ist, die fast gänzlich macht- und rechtlos sind. Auch trifft es häufig es politische Aktivist*innen im Zuge von oder nach Demonstrationen. Mit dem Begriff der "Cop Culture" wird Polizeigewalt als ein strukturelles Problem der Polizeikultur und -identität zu erklären versucht: "Entscheidend für Polizeiübergriffe und übermäßiger Gewalt sei, dass die Praxis des Gewaltmonopols durch einen „Second code in Form von subkulturellen Handlungsmustern“ bestimmt wird. Zu deren Grundelementen gehöre einmal, die polizeiliche Selbstbeschreibung als „Frontkämpfer“ im Einsatz gegen das gesellschaftliche Chaos, das Gefühl der Kameradschaft („sich auf einander verlassen müssen...“) und der Anwendung von Gewalt als Handlungsoption." (Broschüre "Vom Polizeigriff zum Übergriff", S. 16)
Ein strukturelles Problem
Polizeigewalt zu klassifizieren ist kein leichtes Unterfangen, spielen doch meist mehrere Faktoren mit. So kann sie als Aggression von Einzelpersonen auftreten (eben in Stresssituationen oder als persönliche Laune) oder in Zusammenhang mit politischen Interessen. Da die Polizeikräfte etwa bei Demonstrationen einen gewissen Handlungsspielraum innehaben (deeskalierendes oder hartes Vorgehen), je nach Land aber in einem mehr oder weniger engem Verhältnis zu den Regierenden stehen, kann ein hartes Vorgehen auch bewusst herbeigeführt werden, um einen Protest eskalieren zu lassen und ihn somit zu delegitimieren (Beispiel Stuttgart 21) oder ihn durch Gewalt zu unterdrücken (Beispiel Studierendenproteste 2010 in Italien). In jedem Fall problematisch ist aber die Tatsache, dass die Aufklärung von Polizeigewalt systematisch erschwert wird, begonnen beim Korps-Geist, dem Wir-Gefühl der Polizist*innen, die sich gegenseitig schützen, bis hin zu Richter*innen, die den Aussagen von Polizeibeamt*innen mehr Glauben schenken als denen der Opfer. Im AI-Bericht heißt es: "Nach einer wissenschaftlichen Untersuchung aus dem Jahr 2003 werden Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung im Amt gegen Polizeibeamte häufiger ohne eine Gerichtsentscheidung eingestellt als sonstige Ermittlungsverfahren gegen andere Personen." Der Bericht zeigt, dass in den meisten Fällen von Anzeigen abgesehen worden ist, aus Furcht vor (finanziellen) Konsequenzen, und wenn es doch zu einer solchen gekommen ist, dass diese regelmäßig mit Freisprüchen für die Angeklagten enden.
Rassistische Gewalt
Gesondert anzuführen ist die rassistische Polizigewalt, die die Komplexität des Problems aufzeigt. Denn in ihr verknüpfen sich rassistische Einstellungen von Polizist*innen (als Spiegelbild der Gesellschaft) mit politisch-ökonomischen Interessen: Seit dem Wegfall der nationalen Grenzkontrollen und der Errichtung des Schengen-Raumes hat die Polizei verstärkt die Funktion der Migrationskontrolle im Inneren übernommen. Inzugedessen wurden ihr auch weitreichendere Kompetenzen und Handlungsspielräume auch durch bewusst schwammig formulierte Asyl- und Einwanderungsgesetzgebung bei der "Regulation", also de facto Kontrolle, Überwachung und Abschiebung von Migrant*innen, eingeräumt. Dabei gehen die Polizist*innen äußerst selektiv und nach ethnischen Merkmalen orientiert vor. Die größeren Handlungsspielräume verbunden mit einem rassistischen "Ausländer"-Diskurs, welcher Migrant*innen kriminalisiert und entmenschlicht, erhöhen die Hemmschwelle für gewalttätiges Vorgehen, auch da die Täter*innen so gut wie keine Konsequenzen zu befürchten haben.
Was tun?
Opfer von Polizeigewalt sind auf sich allein gestellt - leider existieren keine Vereinigungen wie etwa die Rote Hilfe e.V., die in solchen Fällen kontaktiert werden. Für Opfer empfielt sich unmittelbar nach dem Vorfall ein Gedächtnisprotokoll anzufertigen (für deinen Rechtsbeistand) sowie die Verletzungen im Krankenhaus dokumentieren zu lassen (Attest, Fotos, ecc.). Als Ursache ist es ratsam, Fremdverschulden durch Unbekannt anzugeben. In jedem Fall ist es wichtig, die Schritte mit einem Rechtsbeistand abzuklären, da jede Anzeige mit einer Gegenanzeige durch die Polizei beantwortet werden kann. Infos dazu (vor bundesdeuscher Rechtslage allerdings) bieten etwa die Rote Hilfe oder RAW.
Für die Zukunft wäre die Einrichtung einer Organisation mit juristischer und finanzieller Hilfeleistung für Opfer von Polizeigewalt äußerst notwendig. Die Vorschläge von AI - Kennzeichnungspflicht für PolizistInnen, Audio- und Videoüberwachung von Arrestzellen sowie eine Unabhängige Kommission wie in Irland - sind ebenfalls begrüßenswerte Verbesserungen.
(1) Der Begriff der Polizeigewalt ist recht unscharf, er umfasst meist "unangemessene Gewaltanwendung durch Polizeibeamt*innen". Diese erschließt sich nur aus dem Kontext der Anwendung und lässt sich nicht klar definieren. Zu beachten ist zudem, dass Gesetze selbst gewalttätiges Handeln legitimieren, also den Grad der legitimen Gewaltausübung vorgeben, und die Gesellschaft selbst von unterschiedlichen Gewaltverhältnissen durchzogen ist - jedes Herrschaftsverhältnis ist auf Zwang und somit letztlich Gewalt gestützt.
Wieso sollte eine "offensichtlich gefälschte Röntgenaufnahme eines gebrochenen Gelenks" vor einem Gericht Bestand haben? Wenn die Aufnahme eine Fälschung sein soll, dann ist dies auch objektiv feststellbar und die Anzeige wegen Körperverletzung wohl hinfällig.
RispondiEliminaAlles in allem ein guter Artikel.
"rock the lahn" obermais 2009
RispondiEliminapolizia, carabinieri ---- estrema vergonga!
acab
http://www.spiegel.de/video/video-1102059.html
RispondiEliminapolizei schießt auf rollstuhlfahrer